29.6.19

Annette von Droste-Hülshoff



Annette von Droste-Hülshoff, ihr Taufname lautet Anna Elisabeth Franziska Maria Adolphina Wilhelmina Ludowica, kommt am 12. Januar 1797 auf der münsterländischen Wasserburg Hülshoff als Achtmonatskind zur Welt. Sie überlebt nur Dank der Amme Katharina Plettendorf, die sich Tag und Nacht um „Nette“ kümmert. Annettes Vater, Clemens August von Droste-Hülshoff widmet sich nach seinem Abschied von der Münsterschen Kavallerie Geschichts-, Biologie- und Botanikstudien sowie dem Geigenspiel. Die Mutter, Therese Luise von Droste-Hülshoff, eine Geborene von Haxthausen, begeistert ihre Tochter für die Dichtung und fördert deren erste schriftstellerische Versuche. Annette von Droste-Hülshoff hat noch eine ältere Schwester, Maria Anna, Jenny genannt, sowie zwei jüngere Brüder, Werner Konstantin und Ferdinand.
Schon als Kind verfasst Annette kleine Verse, die ihre Mutter aufschreiben muss. Doch sie wächst in einer Zeit auf, in der Frauen ihren Lebensinhalt kaum selber wählen können. Also dauert es Jahre, bis sie sich verwirklichen darf. Durch verschiedene Reisen lernt sie interessante Persönlichkeiten ihrer Epoche kennen. Selbstbewusste Frauen, die ihr zum Vorbild werden, und ihr langjähriger Dichterfreund Levin Schücking, der sie literarisch inspiriert, fördert und nach ihrem Tod ihr Werk verbreitet.

Hauslehrer unterrichten Annette von Droste-Hülshoff und ihre Geschwister in alten Sprachen, Französisch, Naturkunde und Mathematik. Das kleine, zerbrechliche Mädchen zeichnet sich durch seine Sprachbegabung, Fantasie, Musikalität und Naturverbundenheit aus. Bei ihren Streifzügen durch die Region um Hülshoff lernt Annette bei einfachen Bauern das unverfälschte westfälische Volkstum mit seinen Bräuchen und Gespenstergeschichten kennen. Ihre erste große Reise führt sie als Achtjährige nach Bökendorf, wo ihre Großeltern und die Onkel Werner und August von Haxthausen leben. Letztere sind literarisch engagiert und machen das dortige Gut Bökerhof zu einem Zentrum geistigen Lebens. 1813 kommt Annette dort bei einem weiteren Besuch mit der Welt der Romantiker in Kontakt: Sie lernt die Brüder Grimm kennen und trägt zu Wilhelm Grimms Märchen- und Sagensammlungen aus der Volksüberlieferung bei. Ihre eigenen Gedichte und Texte, die sie ihren Onkeln und deren gelehrten Freunden vorträgt, werden von diesen belächelt.

Anton Matthias Sprickmann, der Professor der Rechte in Münster und Nachbar der Familie ist, wird ein Förderer ihrer literarischen Begabung. Er pflegt Kontakte zu bekannten Dichtern seiner Zeit. Ihm legt sie ihr erstes, Fragment gebliebenes Drama „Berta oder die Alpen“ (1814), die Verserzählung „Alter“ (1818) sowie den unvollendeten Roman „Ledwina“ (1819) vor. Der 48 Jahre ältere, väterliche Freund ermutigt die Dichterin in seinen Briefen, bis die Verbindung 1819 langsam einschläft.

In diesem Jahr reist Annette von Droste-Hülshoff wieder nach Bökendorf, wo sie die Studenten Heinrich Straube und August von Arnswaldt kennen lernt. Diese Bekanntschaft endet durch ein Intrigenspiel in einer Liebeskatastrophe. Ihre an der Intrige beteiligten Verwandten, die von Haxthausen, brandmarken sie als schamlos und leichtsinnig. Annette zieht sich daraufhin in ihr Elternhaus zurück und meidet Bökendorf für 18 Jahre. Vom „Geistreichen Jahr“ (1820), eine Sammlung religiöser Erbauungslieder, die für die westfälische Großmutter gedacht ist, erscheint nur ein erster Teil in Reinschrift. Die Dichterin vollendet ihn erst 1840 in Form einer persönlichen Bekenntnisdichtung.


Da Annette von Droste-Hülshoff oft kränkelt, rät ihr Arzt zu einer Luftveränderung. 1825 begibt sie sich zu einem Onkel nach Köln, wo sie in Kontakt mit dem Stadtleben und dem technischen Fortschritt kommt. In einem Brief schildert sie den Stapellauf des ersten deutschen Dampfschiffs „Friedrich Wilhelm“ am 17.10.1825, reist aber nicht mit dieser „Höllenmaschine“, sondern auf anderem Weg weiter nach Koblenz. Dort wohnt sie bei Wilhelmine von Thielmann, die Novalis, Schiller und Goethe kannte und der Annette, wie sie selbst schreibt, „hinsichtlich meiner Geistesbildung viel zu verdanken“ hat. Auch die Begegnung mit Sybilla Mertens-Schaafhausen, der „Rheingräfin“, ist Balsam für ihr Selbstbewusstsein. An der Bonner Rheinuniversität lernt Annette August Wilhelm von Schlegel kennen.
Im April 1826 tritt Annette von Droste-Hülshoff die Heimfahrt an. Am 25. Juli desselben Jahres stirbt der innig geliebte Vater. Den Hülshoffschen Besitz erbt der älteste Bruder, Annette erhält eine karge Leibrente und zieht mit ihrer Mutter in deren Witwensitz, das nahe gelegene Rüschhaus.

1828 wird Annette immer kränker. Von den Ärzten wird sie aufgegeben. So wendet sie sich der Homöopathie zu, einem damals noch sehr jungen Heilverfahren, das ihr hilft. Am 15. Juni 1829 stirbt der jüngere Bruder Ferdinand. Das löst bei ihr eine erneute Krise aus.
Annette begegnet Adele Schopenhauer und Levin Schücking, dem Sohn ihrer Freundin, der Dichterin Katharina Busch. Die beiden treffen sich erstmals 1831. Sechs Jahre später wird Annette über ihn Mitglied eines Lesezirkels um Elise Rüdiger. 1838 erscheint ein Gedichtband von Annette von Droste-Hülshoff, der sich nur 74-mal verkauft. 1840 erhält Schücking den Auftrag, ein Buch mit dem Titel „Das malerische und romantische Westfalen“ zu verfassen, zu dem auch Annette Balladen beisteuert. 1841 vermittelt sie ihrem Freund eine Stelle als Bibliothekar bei ihrem Schwager, dem Germanisten Joseph Freiherr von Lassberg, in Meersburg am Bodensee, wo Schücking bis zum 2. April 1842 arbeitet, bevor er Redakteur bei der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ wird.

Annette von Droste-Hülshoff vollendet 1841 ihre berühmte Novelle „Die Judenbuche“, die vom 22. April bis zum 10. Mai 1842 im vom Cotta-Verlag herausgegebenen „Morgenblatt für gebildete Leser“ erscheint. Bei Annettes erstem längerem Aufenthalt in Meersburg, wo ihr Schwager die Burg erworben hat, entstehen zahlreiche Gedichte, darunter „Der Knabe im Moor“, die heute zur Weltliteratur gezählt werden. Nach einer kurzen Stippvisite in Westfalen kehrt Annette 1843 für eine Weile nach Meersburg zurück und kauft das oberhalb der Stadt gelegene „Fürstenhäusle“ mitsamt den umliegenden Weinstöcken. Ihr 1844 bei Cotta veröffentlichter Gedichtband findet große Resonanz und macht sie noch zu Lebzeiten zu einer relativ bekannten Schriftstellerin. 1846 bricht sie die Verbindung zu Levin Schücking ab, der mittlerweile mit Louise von Gall verheiratet ist.
Wegen ihres immer noch angegriffenen Gesundheitszustands kann sie erst 1846 eine dritte Reise nach Meersburg unternehmen, wo sie bei ihrem Schwager wohnt. Im Frühjahr 1848 ist sie so schwach, dass sie nur einen kurzen Spaziergang über den Schlosshof ihres Schwagers machen kann. Am 24. Mai 1848 stirbt Annette von Droste-Hülshoff nach heftigem Bluthusten auf der Meersburg. Zwei Tage später setzt man sie auf dem Friedhof der Stadt bei.

Zitat
"Wenn die Kinder klein sind, treten sie uns in den Schoß, und wenn sie groß sind, ins Herz..."

27.6.19

Anne Siegel: Frauen, Fische, Fjorde

April 1949: Im noch nicht wieder aufgebauten Deutschland kommen auf einen Mann fünf Frauen. Auf Islands Bauernhöfen dagegen herrscht Frauenmangel. Die sind in die Städte gegangen, um sich bilden zu lassen.
Und so findet eine Aktion statt, die Island die bisher größte Einwanderergruppe beschert. 300 Frauen melden sich, um in der Ferne ein neues Leben zu beginnen. Die meisten leben sich schnell ein, heiraten Isländer und gründen Familien.
In diesem Buch erzählen die heute noch Lebenden fast alle zum ersten Mal ihre Lebensgeschichte.
Eine der sechs Frauen aus diesem Buch möchte ich euch vorstellen:

Los geht es mit Hilde, die am 29. März 1942 vierzehn Jahre alt und damit die jüngste Feuerwehrfrau von Lübeck ist. Der Vater ist gestorben, die Brüder im Krieg. Jeden Abend bei Bombenalarm mussten sie runter in den Keller.
Hilde war ein ungestümes Mädchen, hatte kein Sitzfleisch, war leicht aufbrausend und musste immer in Bewegung sein. Ihren Bewegungsdrang bekam sie mit Sport einigermaßen in den Griff. Von ihren Leistungen her hätte Hilde gut das Abitur machen können, doch die Eltern wollten, dass sie einen Beruf erlernt und so musste sie den Beruf der Kaufmannsgehilfin lernen. Diese Arbeit war ihr sehr schnell verhasst.
Auch nach Kriegsende blieb Hilde unter ständiger Anspannung. Heute würde man ihr wohl eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigen. Das Zusammenleben mit der Mutter war nicht einfach. Nach vielen Auseinandersetzungen machte sie sich mit auf den Weg nach Island. Sie zog von allen Frauen am weitesten in den Norden.

Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen hat Hildur, wie sie nun genannt wird, überhaupt kein Heimweh. Eigentlich wollte sie nur ein Jahr bleiben. Doch ihr geht es hier so gut. Ihre Nervosität ist von ihr abgefallen, die Familie hat sie gut aufgenommen und sie hat sich in Björn verliebt, einen der Zwillingsbrüder des Hofes. 1951 heiraten die beiden und werden 51 Jahre miteinander verbringen.
Hilde verliebte sich in die Gegend, von der selbst Isländer sagen: "Was will die da? Da ist doch nichts, das ist doch das Ende der Insel und nur noch ein alter Leuchtturm, dann sehr viel Packeis im Winter und dann kommt Grönland."

Hildur und Björn hatten ein arbeitsreiches und glückliches Leben. 1999 bauten sie ihr Haus noch einmal um. Als wenn Björn ahnte, dass er drei Jahre später mit 89 Jahren sterben würde und seiner Frau ein komfortableres Leben schenken wollte. Später probiert Hildur ein isländisches Projekt aus, das viele Seniorinnen und Senioren praktizieren. Über den Winter geht sie in die nächste Kleinstadt in ein "Winter-Seniorenheim". Zu Hause wäre es in dieser Jahreszeit einfach zu gefährlich. Wenn etwas passieren sollte, lägen die Höfe für schnelle Hilfe zu weit auseinander. Auch die Ambulanz könnte unter Umständen zu lange brauche, um rechtzeitig Hilfe leisten zu können.

"Isländische Alten- und Seniorenheime sprengen die Klischees dessen, was wir Mitteleuropäer kennen. Sie sind farbenfroh ausgestattet und voller Leben. Die Personalausstattung ist gut. Es wird gern gelacht, hier ist noch viel in Bewegung. Damit sind nicht nur die Sport- oder Strickgruppen oder die Ergotherapien und Literaturzirkel der Häuser gemeint. Traditionell verfügen sie über Schwimmbäder und Bottiche mit heißem Wasser, in denen man sich ausruht. Das ist Tradition und viele nutzen das täglich."

Hildur hat diesen Schritt nie bereut und bis zum Zeitpunkt, als sie ihre Geschichte erzählte, würde sie alles wieder so machen.

Ein sehr interessantes Buch. Bis vor Kurzem wusste ich von dieser Auswanderungswelle nichts. Und das Thema ist ja brandaktuell, wenn ich so an die "Wirtschaftsflüchtlinge"-Schreier denke. Denn um nichts anderes ging es bei den Frauen, die damals nach Island gingen, die hier in Deutschland für sich keine Perspektiven für die Zukunft sahen. Denn Kriegsflüchtlinge sind sie 1949 ja nicht mehr gewesen.

Von was wir uns eine Scheibe abschneiden könnten: In Island leben die Alten, auch in diesen Seniorenheimen, mitten in der Gesellschaft. Die isländischen jungen Leute haben den Ernst der Lage erfasst, dass die heutigen ganz Alten wirklich die letzten sind, die noch von Kriegszeiten berichten können.

25.6.19

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land

In meiner DDR-Kindheit ist mir Astrid Lindgren nicht unter die Finger gekommen. Später dann lernte ich Pippi Langstrumpf als Fernsehserie kennen.
Und vor gut fünf Jahren erst habe ich Ronja Räubertochter kennengelernt. Das werde ich übrigens demnächst noch einmal mit Mira lesen.

Dieses Buch beginnt nun mit der Liebesgeschichte von Astrid Lindgrens Eltern. Sie hat sie wohl öfter von ihrem Vater gehört. Und sie selbst schreibt sie so schön nieder, dass es eine Wonne ist, sie zu lesen.

Schön auch die Liebesbriefe, die sie uns auszugsweise zu lesen gibt:

Die kleine, dumme, einfältige Wahrheit ist doch die, dass ich es viel schöner fände, wenn du hier wärst, und dass die Sehnsucht mir manchmal groß wird. Eigentlich hatte ich nicht vor, dies zu verraten, und ich bereue bereits, dass es hier steht, aber nun steht es einmal da und legt Zeugnis davon ab, wie leicht Mädchen sich verplappern.
S. 27

Nie habe ich es erlebt, dass jemand so liebevoll über seine Eltern geschrieben oder gesprochen hat, wie Astrid Lindgren es getan hat. Sie wuchs in einem Elternhaus voller Liebe auf. Natürlich hatten die Kinder auch ihre Pflichten. Früh schon mussten sie im Haushalt und auf dem Feld helfen. Aber sie hatten auch genügend Zeit für ihre Spiele. Und da wurden ihnen keine Grenzen gesetzt. Es war nicht schlimm, wenn sie nicht pünktlich zum Essen zu Hause waren. Sie mussten sich dann halt was aus der Speisekammer holen. Es wurde auch nicht über Missgeschicke geschimpft, für die sie nichts konnten.
Und, was ich sehr schön finde, die Eltern haben sich nicht geschämt, ihre Zuneigung füreinander auch vor den Kindern zu zeigen. Da wurde sich vor den Kinderaugen auch schon mal geherzt.

Im Weiteren erinnert sich Astrid Lindgren an die Mägde und Knechte auf den Höfen, die Landstreicher, Sonntagsschule, viele und fröhliche Familienfeiern, Viehmärkte, Schausteller und vieles mehr.

Der erste Gedanke aber, fragt man Astrid Lindgren nach ihren Kindheitserinnerungen, gilt der Natur.

Sie umschloss all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, dass man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann. Der Steinhaufen, wo die Walderdbeeren wuchsen, die Leberblümchenstellen, die Schlüsselblumenwiesen, die Blaubeerplätze, der Wald mit den rosa Erdglöckchen im Moos, das Gehölz rings um Näs, wo wir jeden Pfad und jeden Stein kannten, der Fluss mit den Seerosen, die Gräben, die Bäche und Bäume, an all das erinnere ich mich besser als an die Menschen. Steine und Bäume, sie standen uns nahe, fast wie lebende Wesen, und die Natur war es auch, die unsere Spiele und Träume hegte und nährte.
- S. 66f

Als Astrid fünf war, bekam sie die erste Geschichte vorgelesen. Das war ihr Durchbruch von der Welt der Natur in die Welt der Kultur. Als sie selbst lesen lernte, ging sie auf die Jagd, um ihren wilden Lesehunger zu stillen.

Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen - dass man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! Noch heute weiß ich, wie diese Bücher rochen, wenn sie funkelnagelneu und frisch gedruckt ankamen, ja, denn zunächst einmal schnupperte man daran und von allen Düften dieser Welt gab es keinen lieblicheren. Er war voller Vorgeschmack und Erwartungen.
- S. 74

Mit Liebe denkt sie an ihre gelesenen Bücher zurück. Und nein, es waren nicht nur Klassiker, die sie gelesen hat, sie verschlang auch billige Indianerhefte und die Liebesromane von Hedwig Courth-Mahler.

Astrid Lindgren legt Eltern ans Herz, ihren Kindern Bücher zu schenken. Mit ihnen zu lesen und mit ihnen über das Gelesene zu sprechen.
Und auf den letzten Seiten erzählt sie noch etwas darüber, woher ihre Einfälle für ihre Kinderbücher gekommen sind.

24.6.19

Diane Ackerman: Die Frau des Zoodirektors

Im Polen des Zweiten Weltkriegs riskierte man schon die Todesstrafe, wenn man einem durstigen Juden einen Becher Wasser reichte.

Umso beeindruckender war der Heldenmut dieses Ehepaares: Jan und Antonina Zabinski - ein Zoodirektor und seine Frau. Sie haben mehr als dreihundert todgeweihten Menschen - zumeist Juden - das Leben gerettet. Ihre menschliche Tat ist durch das Raster gefallen. Doch sie wurden dem Vergessen entrissen und Diane Ackerman erzählt uns ihre Geschichte.

In einer Art Vorwort benennt die Autorin, die 1948 in Waukegan, Illinois geboren wurde, all diejenigen, die ihr bei ihren Recherchen geholfen haben. Und welche Quellen sie genutzt hat. Ihr standen zum Beispiel das persönliche Tagebuch von Antonina Zabinski zur Verfügung und ihre autobiografischen Kinderbücher, zum Beispiel Das Leben im Zoo.

Mit einer kleinen jüdischen Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, endet dieses Vorwort und Die Frau des Zoodirektors beginnt.

Als Antonina acht Jahre jung war, wurden ihre Eltern als Mitglieder der Intelligenzija während der Februarrevolution von den Bolschewisten umgebracht. Sie besuchte in Taschkent, Usbekistan, die Schule, bekam Klavierunterricht, verließ mit 15 Jahren die Schule und zog mit der Großmutter nach Warschau. Hier bestand sie eine Prüfung als Archivarin und sie arbeitete dann im Archiv der Landwirtschaftlichen Hochschule von Warschau, wo sie den Zoologen Jan kennenlernte - elf Jahre älter als sie. Sie nutzten eine sich ihnen bietende Chance, eine neue Art Zoo aufzubauen und unter den Tieren zu leben. 1931 wurde geheiratet und sie zogen nach Praga.

Gleich hinter der Altstadt lag das große Judenviertel. Jahrhundertelang hatte Polen Juden aufgenommen, die aus anderen Ländern vertrieben worden waren.

1939 erkannten die Polen, dass die Zeichen auf Krieg standen. Doch Antonina setzte auf die starke Allianz mit den Franzosen und ihren Verbündeten Großbritannien. Doch am 1. September fielen die Bomben. Und da der Zoo am Fluss mit seinen belebten Brücken lag, die zu den bevorzugten Zielen der Deutschen gehörten, wurde er nicht verschont. Eine Bombe traf das Eisbärgehege, sodass die verwundeten Tiere frei herumliefen und erschossen wurden. Die Soldaten beschlossen, die gefährlichsten der Zootiere, z. B. Löwen und Tiger, ebenfalls zu erschießen.

Jan wurde eingezogen und alle anderen mussten den Zoo verlassen. Bei zwei alten Damen fanden Antonina und ihr Sohn Unterschlupf. Doch der Gedanke an die Tiere ließ sie nicht los. Und so machte sie sich auf den Weg.

Den Zoo hatte es getroffen und er lag in Schutt und Asche. Die Tiere waren tot bzw. schwer verletzt, teilweise vom Feuer eingeschlossen. Antonina und eine Handvoll Tierpfleger versuchten, all den Tieren zu helfen, wobei sie selbst aufpassen mussten, sich nicht in Gefahr zu begeben.

Eines Tages war Jan plötzlich wieder da; auf abenteuerliche Weise hat er den Weg zurück nach Warschau gefunden.

Nach einigen Tagen wagten sich die beiden zurück in den Zoo, wo sie einige weitere Tierpfleger trafen. Man fand in den unmöglichsten Verstecken noch verwundete Tiere. Das Fleisch der toten Tiere (Pferde, Hirschwild und Antilopen) verteilten sie an die hungrige Bevölkerung.

Nach der Kapitulation Warschaus hatte Antonina immer noch Hoffnung: "... vielleicht bedeutet es endlich wieder Frieden und die Chance für einen Wiederaufbau."

Hans Frank, Hitlers persönlicher Rechtsanwalt, verwaltete das deutsche Gouvernement. Er war nicht nur Gründungsmitglied der Nationalsozialistischen Partei, er änderte auch die deutsche Gesetzgebung nach den Vorstellungen der Nazis, insbesondere "im Hinblick auf die Rassengesetze und den Widerstand".

Frank sorgte für die Liquidierung der polnischen Bildungsschicht. Er sorgte dafür, dass "860.000 Polen entwurzelt und anderswo angesiedelt" wurden. Dass sich 75.000 Deutsche deren Landbesitz aneignen konnten. Dass 1.300.000 Polen "als Zwangsarbeiter nach Deutschland transportiert und weitere 330.000 einfach erschossen" wurden.

Doch der polnische Widerstand lebte und war äußerst aktiv. Er "hatte so viele Zellen, dass jeder sich beteiligen konnte, egal wie alt, gebildet oder nervenstark er war".

Dass das Ehepaar Żabiński Widerstand leistete – da verrate ich nicht zu viel; geht das doch aus dem Klappentext hervor. Auf welche Weise dies geschieht, das lies selbst… Ich lege Dir das Buch über dieses mutige Ehepaar ans Herz.

Moshe Tirosh, geboren 1937, fand zu der Zeit selbst für kurze Zeit Unterschlupf in dem Zoo von Jan und Antonina Żabiński. Hier kannst Du seine Geschichte lesen.

22.6.19

Carlos L. Dews: Carson McCullers - Die Autobiographie

Carson und Reeves McCullers Kriegsbriefe 1944-1945
Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Carlos L. Dews
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Walitzek

Mit zahlreichen Photographien

Das Buch wird eingeleitet mit einem Zitat von William S. Burroughs:

Eine Rückschau auf ein Leben ist keine wohlgeordnete Aufzählung von Ereignissen von der Zeugung bis zum Tod. Vielmehr Bruchstücke daraus von hier und da.

Carson McCullers wurde nur 50 Jahre alt. Ihren letzten Geburtstag (17. Februar 1967) feierte sie im New Yorker Plaza Hotel, wo sie auch noch Interviews gab. Unter anderem erklärte sie, warum sie eine Autobiographie schreibt:

Ich denke, daß es für zukünftige Generationen von Studenten wichtig ist zu wissen, wieso ich manche Dinge tat, aber es ist auch für mich selbst wichtig. Ich wurde über Nacht zu einer etablierten literarischen Persönlichkeit, und ich war viel zu jung, um zu verstehen, was da mit mir geschah oder welche Verantwortung damit verbunden war. Ich muss unerträglich gewesen sein. Das, im Zusammenspiel mit all meinen Krankheiten, hätte mich fast zugrunde gerichtet. Aber wenn ich die Auswirkungen, die dieser Erfolg auf mich hatte, zurückverfolge und für zukünftige Generationen dokumentiere, hilft es ihnen vielleicht dabei, besser mit Erfolgen umzugehen.

Auf den ersten Seiten gibt es etwas Biographisches. Die Eltern und Geschwister werden erwähnt. Mit neun Jahren begann sie ein Klavierstudium, musste ihren Traum einer Konzertpianistin aber aufgeben, als sie krank wurde. Später diagnostizierte man bei ihr rheumatisches Fieber. So begann sie heimlich zu schreiben, da sie niemanden enttäuschen wollte. Sie reist später nach New York, um an Kursen teilzunehmen und arbeitete nebenbei für den Lebensunterhalt. Sie heiratete James Reeves McCullers jun., doch die Ehe war durch verschiedene Probleme belastet. Ihr Mann wollte sie sogar zum Selbstmord überreden, doch sie flüchtete. Er nahm sich dann alleine das Leben.
In ihren letzten 15 Jahren wurde Carson McCullers immer kranker. Literarisch hatte sie kaum noch Erfolg. Als sie mit der Autobiografie begann, war sie schon ans Haus und Bett gefesselt. Vom 18. April bis zu ihrem letzten Schlaganfall am 15. August diktierte sie den Entwurf einer Menge Menschen: Freunden, Familienmitgliedern, studentischen Hilfskräften. Es ist nicht mehr möglich, alle Identitäten festzustellen, die an dieser Arbeit mitgewirkt haben.

Der Name Annemarie Schwarzenbach taucht auf. In meinem SuB habe ich das Buch "Fast eine Liebe – Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers" von Alexandra Lavizzari stehen, in dem es um diese beiden Frauen geht.

Ich beneide Carson McCullers fast um ihre Kindheitserinnerungen:

Das Muster der Liebe hatte in meiner Kindheit begonnen. Ich vergötterte eine alte Dame, die immer wie ein mit Zitronenkraut gefülltes Duftkissen roch. Ich schlief bei ihr und kuschelte mich im Dunkeln an sie. Oft sagte sie: "Zieh dir den Stuhl bei, Liebchen, und sieh mal in der obersten Kommodenschublade nach", und dort fand ich dann irgendeine Leckerei. Ein kleines Törtchen oder einmal, zu meinem Entzücken, ein paar Kumquats. Diese erste Liebe war meine Großmutter, die ich Mommy nannte.

Der Autobiografie-Teil liest sich leicht und locker weg, aber ein so schönes Leben hat sie nicht gehabt.
Als Kind wurde sie falsch diagnostiziert und so bekam sie mehrere Schlaganfälle. Dann einen Alkoholiker als Mann, der sie nach der Scheidung nicht in Ruhe lies. Er verfolgte sie regelrecht und drohte damit, sich umzubringen, wenn sie ihn nicht wieder heiraten würde.
Am besten ging es ihr anscheinend immer, wenn sie schreiben konnte.

Carson McCullers hatte zwar ein kurzes, aber ein sehr erfülltes Leben. Und sie hatte sehr viele Freunde, was bei ihrem Erfolg sicher nicht selbstverständlich ist.
Robert und Hilda Marks lernte sie unter ungewöhnlichen Umständen auf einer Gartenparty kennen:

Für mich war der erste Teil dieser Party ein Desaster. Meine Schuhe fühlten sich komisch an, und als ich mit in der Reihe stand, um die Gäste zu begrüßen, fühlten sie sich immer komischer an und taten immer mehr weh. Und in dem Moment, als meine Füße so schrecklich weh taten, lernte ich die Marks kennen. Mein Gesicht war vor Schmerzen ganz verkniffen und meine Freundlichkeit in diesem Moment ziemlich falsch. Hilda bekam einen sehr schlechten Eindruck von mir. Dann, als diese endlose Party vorbei war und ich mich in einen Liegestuhl fallen lassen konnte, sagte John plötzlich: "Ach du meine Güte! Du hast deine Schuhe verkehrt herum an."

Glücklicherweise traf Carson McCullers die Marks später noch einmal wieder und sie wurden Freunde.

18.6.19

Mia Farrow: Dauer hat, was vergeht

Das Buch beginnt mit Mia Farrows Kindheit. Und als sie neun geworden war, endete sie auch schon. Seit Wochen schon stimmt etwas nicht mit ihr. Müdigkeit und Schlaflosigkeit quälten sie. Kein Arzt findet heraus, was das ist.
An ihrem neunten Geburtstag nun klappt Mia zusammen und muss ins Bett. Und nachdem man ihr Flüssigkeit aus dem Rückenmark entzogen und diese untersucht hat, wurde sie sofort in eine Klinik gebracht. Kinderlähmung wurde festgestellt.

"Wenn die Kinderlähmung das Ende meiner Kindheit bedeutete, dann stattete sie mich zugleich mit elementaren Überlebensfähigkeiten aus. Ich entdeckte, daß man immer noch weitgehend seine Haltung bestimmen kann, wieviel man auch verloren haben mag. Wenn man gesund bleibt und ein wenig Mut und Phantasie besitzt, hat man die inneren Reserven, um sich ein neues Leben aufzubauen - vielleicht sogar ein besseres. Ich sah, wie zerbrechlich die Grundlagen unseres Lebens sind und wie leicht man herausgerissen und in das Reich von Unsicherheit, Angst, Schmerzen und Tod geworfen werden kann. Ich lernte, daß einem nichts wirklich gehört, und dass der einzige echte Besitz im Augenblick des Gebens liegt. Und ich lernte ein wenig über Freundschaft und wie sie den dunkelsten Abgrund erleuchten kann..."

Diese Erfahrung schon mit neun Jahren machen zu müssen, ist doch furchtbar.

Im Folgenden lernen wir die Geschwister von Mia Farrow kennen und die Freunde, mit denen sie draußen spielte.
Auch ihre Eltern stellt sie vor: Mutter Maureen O'Sullivan, die mit Johnny Weissmüller sechs Tarzanfilme drehte. Und Vater John Villiers Farrow, Filmregisseur in Hollywood.
Schon mit drei Jahren lernte Mia Farrow die Filmwelt kennen. Ihr drittliebster Erwachsener war der französische Schauspieler Charles Boyer, der mit seiner Familie nur ein paar Häuser weiter wohnte. Der nahm sie wahr und zeigte sogar Interesse für das, was die Zehnjährige ihm erzählte. Eines Tages sagte er zu ihr:

"Du wirst ein wunderbares Leben haben, aber auch ein schwieriges, glaube ich."

Aber anfangen konnte sie damit noch nichts.
Zu Herzen gehend berichtet sie über den Tod ihres Bruders Mike. So überraschend, unvorbereitet.
Zwei Jahre später hat die Familie noch nicht wieder zueinander gefunden.

"Sosehr ich mich auch danach sehnte, es war unmöglich, mit einem meiner Elternteile über wichtige Dinge zu sprechen. Um mich herum breitete sich langsam das Gefühl aus, versagt zu haben. Auch meine Geschwister gerieten in diesen Strudel: Wir hatten, jeder für sich allein, viel zuviel durchgemacht, und in der Isolation, die Schmerz und Trauer uns auferlegt hatten, konnten wir uns nicht mehr erreichen."

So verkroch sich Mia in ihre Bücher und hoffte, ins Kloster aufgenommen zu werden. Was ihre Eltern dann doch beunruhigte.
Doch mit 17, nach dem Highschool-Examen, wollte sie dann doch lieber Kinderärztin werden.
Und dann starb ihr Vater. Zwei Monate später lernte sie Salvador Dali kennen, der sie

"in die Welt des Surrealismus einführte, er kappte die Halteseile meiner Gedanken und schleifte die Mauern in meinem Kopf."

Mia übernahm kleine Rollen, weil die Mutter es nicht schaffte, die Familie alleine zu ernähren. Gleich ihre erste Serie, die sie drehte, "Peyton Place" (u. a. mit Ryan O'Neal), war ein Erfolg und machte sie berühmt.
Mit 19 verliebt sie sich in Frank Sinatra. Sie hielten ihre Beziehung geheim. Seine Töchter waren älter als Mia, doch sie verstanden sich gut.
Bei einer Wohltätigkeits-Show zeigten sie sich das erste Mal gemeinsam. Und dann war nichts mehr wie vorher. Mia wünschte sich die frühere Zeit her, denn nun sah sie Frank kaum noch.

Die Trennung von Frank Sinatra kam überraschend für Mia Farrow. Sie drehte "Rosemaries Baby" mit Roman Polanski. Diese Drehzeit fiel in den Beginn eines anderen Projekts, in dem sie mit ihrem Mann spielen sollte. Er stellte sie vor die Wahl. Und plötzlich steht ein Anwalt mit Scheidungspapieren vor ihr.
Mia geht nach Indien, um zu meditieren. Sie versucht, sich selbst wiederzufinden. Nach ihrer Rückkehr trifft sie sich wieder mit Frank, doch sie kommt

"zu der Einsicht, daß Frank und ich nicht für eine gemeinsame Zukunft planen sollten".

Im August 1968 waren sie dann geschieden. Sie lernt André Previn (Komponist, Pianist und Dirigent) kennen. Sie bekommen Zwillinge, zwei Jungen, von denen einer autistisch ist. Es ist 1970/71, über Autismus weiß kein Arzt etwas. So versucht Mia selbst alles, um zu ihrem Sohn durchzudringen.
Das Ehepaar adoptiert drei vietnamesische Mädchen aus Waisenhäusern. Für das dritte Mädchen musste Mia ein Jahr lang kämpfen.

"Die Anzahl der Visa, die einer amerikanischen Familie zum Zwecke der Adoption zugebilligt wurden, waren auf zwei begrenzt."

Doch sie versuchte alles, bis schließlich der Kongress eine Gesetzesänderung durchführte.
Mia und André leben sich auseinander. Für den Film "Hurricane" (der mir persönlich als einziger mit ihr in Erinnerung ist) reist sie mit ihren Kindern nach Bora Bora in die Südsee. Wo man bei Sternenlicht lesen kann. Hier vertieft sie sich in die Bücher von Dostojevskij.
Das Paar trennt sich.

Den letzten größten Raum ihrer Erinnerungen nimmt die Beziehung zu Woody Allen ein. Und mir ist nun auch wieder richtig bewusst geworden, warum ich Woody Allen so unsympathisch finde. So genial seine Filme vielleicht sein mögen, ich kann es nicht beurteilen, als Mensch ist er ein Krüppel.
Vielleicht erinnert ihr euch: In den 90er-Jahren gab es Schlagzeilen, wonach er mit einer der Adoptivtöchter Mias eine sexuelle Beziehung hatte. Das kam mir erst jetzt wieder richtig in Erinnerung. Wie krankhaft seine Beziehung zu einigen ihrer Kindern aber wirklich war, habe ich erst aus diesem Buch erfahren. Und nur, um die Kinder zu schützen, ist der Mann ohne Strafe davongekommen.

14.6.19

Ulrike Müller: Salonfrauen - Leidenschaft, Mut, geistige Freiheit

"Der Salon war (...) das höchste Ziel der Pariserin, der Trost ihrer reifen Jahre, der Ruhm ihres Alters.
... Sie verwandte ihre ganze Intelligenz darauf, opferte ihm alle übrigen Neigungen, erlaubte sich von dem Augenblick an, in dem sie sich dazu entschlossen hatte, keinen anderen Gedanken mehr, keine Zerstreuung, keine Zuneigung, keine Krankheit, keine Traurigkeit. Gattin, Mutter und Liebende war sie nur mehr in zweiter Linie."

Marie d'Agoult, in ihren Memoiren (Bd. 2), um 1835

Vor noch gar nicht langer Zeit war der Zugang zur Bildung den Frauen verschlossen. Von Gymnasien und Universitäten waren sie ausgeschlossen und eine Berufsausbildung kaum möglich. Doch der Bildungshunger war ungebrochen.So entstanden Salons. Sie wurden hauptsächlich von Frauen gegründet und gestaltet - privat oder öffentlich.
Die Salonnièren boten so "einen unkonventionellen Freiraum für intellektuellen Gedankenaustausch, Dichtung, Philosophie und Politik, Musik und Bildende Kunst. Drei Gruppierungen haben sich mit der Zeit herausgebildet:

1. Regentinnen und Repräsentantinnen des Adels an den europäischen Höfen
2. hochgebildete, oft adlige Vertreterinnen der freien und käuflichen Liebe, die eher neben der Gesellschaft lebten: Hetären, Kurtisanen, auch Künstlerinnen
3. Frauen aus dem Großbürgertum und Bürgertum, besonders Frauen des liberalen Judentums

In der Einleitung wird weiterhin erklärt, woher der Begriff "Salon" kommt, wie lange es die Salonkultur schon gibt (sie ist nämlich keine Erfindung der Frauen des 19. Jahrhunderts) und was die Frauen sich von einem Salon erhofften.

Ulrike Müller stellt uns in ihrem Buch Frauen zu vier verschiedenen Salonthemen vor:

1. Die Sprach- und Sprechlustigen: Literatur und mehr
2. Die Intellektuellen: Zwischen Politik und Philosophie
3. Musen, Mütter, Meistersängerinnen: Schwerpunkt Musik
4. Jägerinnen und Sammlerinnen: Schwerpunkt Bildende Kunst

Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833)
Obwohl ich mich ja ganz allgemein für das Leben von Frauen interessiere, sind für mich die Salonnièren der Literatursalons am interessantesten. Vorgestellt werden hier Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Varnhagen, Sinaida Wolkonskaja, George Sand und Natalie Clifford Barney.

Aber auch viele unbekanntere Namen werden hier erwähnt.
Bevor die Frauen genauer vorgestellt werden, gibt es zu jeder Thematik noch ein kleines Vorwort, in dem weitere Salonnièren aufgeführt werden, denen man bei Interesse nachspüren kann.

Über Politik und Philosophie ließ es sich vortrefflich streiten bei u. a. Marie d'Agoult, Fanny Lewald und Berta Fanta.
Für Frauen ändern sich die Zeiten; sie streiten für Demokratie und Menschenrechte, gehen 1848 dafür sogar auf die Barrikaden.

Der musikalische Salon blühte in Europa um 1830 auf wie nie zuvor. Vorrangig in Paris. In diesem Kapitel wird über die sechs Salonfrauen in der Zeit von der Romantik bis zu den Anfängen der Neuen Musik berichtet: Amalie Beer, Johanna Kinkel, Livia Frege, Carolyne von Sayn-Wittgenstein, Pauline Viardot-Garcia und Winnaretta Singer-Polignac.

Zum Schluss wird das Thema Bildende Kunst aufgegriffen. Hier sind vertreten: Valtesse de La Bigne, Berta Zuckerkandl, Marianne von Werefkin und Gertrude Stein.
Dass Frauen ebenso wie Männer große Mäzeninnen und Sammlerinnen waren, ist schon längst bekannt. Gründlich erforscht werden müsste allerdings noch die Bedeutung der Salonkultur für die Förderung und gesellschaftliche Akzeptanz innovativer Kunstrichtungen und KünstlerInnen".

Ein interessanter Blick in die Salonkultur, den ich sehr genossen habe. Lesenswert wären sicherlich auch Briefe und Tagebücher dieser Damen. Da werde ich mal schauen, ob ich fündig werde.


13.6.19

Neu im Regal


Eigentlich lese ich ja lieber Bücher über Frauen, doch diesmal habe ich nur Männer erwischt. Danke für die schnelle Lieferung, lieber Herr Fischer.

Ich stelle sie euch per Klappentext vor.

Mario Adorf: Zugabe!
Die Lebensbilanz eines Weltstars

"Tim Pröse hat mir mit großer Zuneigung und Begeisterung, aber auch mit geschickten, immer tiefer bohrenden Fragen mehr Persönliches entlockt, als ich normalerweise preisgeben würde."
                                                                                                                                         Mario Adorf

William Finnegan: Barbarentage
"Eine grandiose Liebeserklärung an das Meer" - stern

Vor fünfzig Jahren verfällt William Finnegan dem Surfen. Damals verschafft es ihm Respekt, dann jagt es ihn raus in die Welt - Samoa, Indonesien, Australien, Südafrika -, als Familienvater mit Job beim ,New Yorker' dient es der Flucht vor dem Alltag...

BARBARENTAGE erzählt die Geschichte dieser lebenslangen Leidenschaft, sie handelt vom Fernweh, von wahren Abenteuern und den Versuchen, trotz allem ein Träumer zu bleiben. Ein Buch wie das Meer, atemberaubend schön.

Gerhard Fritsch: Man darf nicht leben, wie man will - Tagebücher
Es ist Zeit für die Wiederentdeckung eines radikalen Autors.

Der Alleingang von Gerhard Fritsch, der über sein Tagebuch direkt zu seiner Literatur führt, war von einer mit Thomas Bernhard vergleichbaren Radikalität, doch Fritsch hat seine Literatur auf Teile der eigenen Person hin transparent gemacht, über die man im Österreich der 1950er und 1960er Jahre nicht ungestraft reden durfte.
                                          Klaus Kastberger

Rafik Schami: Ich wollte nur Geschichten erzählen - Mosaik der Fremde
Über das Ankommen - eine literarische Lebensreise

"Es fällt leichter, die Nachteile eines Exils aufzuzählen als die Vorteile. Mit einem Satz möchte ich aber mein Lob auf das Exil zum Ausdruck bringen: Ohne mein Exil in Deutschland gäbe es meine Romane und Geschichten nicht, und ich selbst wäre mit Sicherheit ein anderer geworden."
                                                                                                              Rafik Schami

12.6.19

Manfred Krug: Abgehauen

Am Wochenende hatte ich ein Stelldichein mit Manne Krug. Aus Filmen aus DDR-Zeiten kann ich mich gar nicht so recht an ihn erinnern, wusste erst nach der Wende, dass sein wohl bekanntester Film (zumindest unter DDR-Leuten) eine Verfilmung des Buches Spur der Steine war, das ich schon in jungen Jahren gelesen habe. Auch, dass eben diese Verfilmung nach dem 3. Mal im Kino abgesetzt wurde, habe ich erst zig Jahre später erfahren.

Im West-TV kannte ich ihn aus der Serie Auf Achse, die ich damals regelmäßig schaute.

Die ganzen Zusammenhänge habe ich eben an diesem Wochenende aus diesem Buch und dem dazugehörigen Film und einer Dokumentation (auf Youtube) erfahren.

Klappentext

Krieche ich zu Kreuze,
bin ich kaputt. Krieche ich nicht zu
Kreuze, macht ihr mich kaputt.?

Niemals ist das DDR-System transparenter beschrieben, niemals die Gefährlichkeit einer versuchten Symbiose von Macht und Kunst heller beleuchtet worden als in diesem Text. Manfred Krugs Erinnerungen sind ein aufregendes, erschütterndes Zeitdokument, das jedem die Augen öffnet, auch wenn er einer anderen Generation angehört.

Meine Gedanken

Manfred Krug war bis dahin, als seine Schwierigkeiten begannen, ein Volksschauspieler in der DDR. Er hat äußerst gut verdient, konnte sich ein Einfamilienhaus, wie er es nannte, leisten, das er allerdings im Laufe der Jahre auch erst wieder richtig hergerichtet hat, hatte ein Wassergrundstück und eine Reihe Oldtimer, die er wieder herrichten wollte. Er hat sich eingerichtet mit seiner Familie, mit Frau Ottilie und drei Kindern.

Dann kam der 17. November 1976. Wolf Biermann trat in Köln auf, kritisierte die DDR und postwendend wurde ihm die Wiedereinreise in die DDR verboten. Manfred Krug und viele andere Künstler setzten ihre Unterschrift unter dieses Protestschreiben:

"Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein.

Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens „18. Brumaire“, dem zufolge die proletarische Revolution sich unablässig selber kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.

Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt.

Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.

17. November 1976"

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

Manfred Krug und viele andere weigerten sich bei einem Treffen mit den Machthabern, die Unterschrift zurückzunehmen. Das hatte für ihn Konsequenzen. Sein Film Spur der Steine blieb abgesetzt, seine Konzerte boykottiert, Regisseure weigerten sich, mit ihm zu arbeiten. Ein halbes Jahr ging das so. Dann reichte er einen Ausreiseantrag ein.

Warum das alles so bekannt ist? Manfred Krug hat das besagte Treffen auf Tonband aufgenommen. Und er schrieb Tagebuch ab dem Zeitpunkt, als er den Antrag eingereicht hat.

Das soll es zum Inhalt gewesen sein, obwohl es aus mir weiter heraussprudeln möchte. Nur eines möchte ich noch schreiben:

Hätte ich das Buch in den 90er Jahren gelesen, als Krug es veröffentlichte, wäre ich wohl schockiert gewesen. Wie ich über vieles schockiert war, was ich nach der Wende über die Machenschaften der DDR erfahren habe.

Heute aber, mit dem Wissen, was bei uns in der Welt geschieht, kann ich, so traurig es damals für jeden Einzelnen war, fast nur darüber lächeln. Nichtsdestotrotz ist mir Manne Krug am Wochenende richtig nah gekommen und ich bin froh, ihn auf diese Weise noch kennengelernt zu haben.

9.6.19

Bruno Doucey: Victor Jara – „Nein zur Diktatur“

Ich weiß nicht mehr, wann ich von Victor Jaras Ermordung erfahren habe. Er wurde ein paar Tage vor meinem 9. Geburtstag mit mindestens 44 Schüssen umgebracht. Weil er sich politisch betätigte und für den Frieden sang. So habe ich es damals in der Schule erfahren.
Als Jugendliche habe ich viel seine Musik gehört. Doch dann habe ich ihn aus den Augen verloren. Erst vor einiger Zeit, als ich beim Anaconda-Verlag auf der Suche nach Klassikern war, fiel mir dieses Büchlein auf.

Doch von vorne:

Das Buch beginnt am Mittwoch, 12. September 1973. Die ersten Sätze muten an, als wenn sie aus einem Bericht über den Holocaust stammen:

„Die Schlange der Gefangenen kommt in den Straßen der Stadt nur mühsam vorwärts. Sie wird von Kolbenhieben begleitet, durch die Beschimpfungen der Soldaten bedrängt, von knurrenden Hunden bedroht. Von Zeit zu Zeit bricht ein Festgenommener auf der Straße zusammen, ein anderer begehrt auf. Sie werden sofort beiseite geschafft und mit einer Kugel in den Kopf hingerichtet.“

Die Chilenen wurden vom Fleck weg verhaftet: aus ihren Häusern, von der Arbeit, von Universitäten. Ein junger Mann widersprach – er wurde zu Tode geprügelt, ein anderer stürzte sich vor Angst in den Tod.
Unter den Gefangenen, die in das Estadio Chile verschleppt werden, befindet sich auch der berühmte Sänger Victor Jara, der, sobald er von einem Offizier erkannt wurde, einen Peitschenhieb gegen die Schläfe bekommt. Von klein auf kennt Victor Jara dieses Stadion. Er weiß gar nicht mehr, wie oft er hier gesungen hat. Erinnerte sich aber an das Jahr 1969: Die schönsten Stimmen der chilenischen Liedersänger ertönten Stunde um Stunde. Und ihre ganze Hoffnung richtete sich auf die kommende Wahl.
Neben sich hört Victor Jara die Stimme eines 15-Jährigen: „Ich habe Angst. Ich will nicht sterben.“ Noch ist er überzeugt, hier schnell wieder wegzukommen, da die Augen der ganzen Welt auf Chile gerichtet ist. Doch schon ist der Offizier wieder bei ihm, schlägt ihn zusammen und fordert, dass man ihn in das Quartier für die gefährlichen Gefangenen führt.

Als Victor wach wird, liegt er auf der blanken Erde, kann sich kaum rühren, der Körper schmerzt. Aber die Gedanken fliehen zu Menschen, denen er nahesteht: Joan, die Frau, die er liebt, seine Töchter Amanda und Manuela. Er denkt an Salvador Allende und Pablo Neruda, dessen Rückkehr nach Chile gerade gefeiert worden war.
Erinnerungen auch an die Kindheit, die Geschwister, die schon als Sechs- und Siebenjährige mitarbeiten mussten, um die Familie ernähren zu können.
Der Vater war Analphabet, der den Schulbesuch, für den die Mutter sorgte, missbilligte. Dass Victor Jara der geworden ist, der er war, hat viel mit seinem Vater und dessen Verhalten der Familie gegenüber zu tun. Und da geht es um oft düstere Stunden, die Erinnerung daran rief Victor Jara in einem seiner ersten Lieder, „La luna es siempre muy linda“ (Der Mond ist immer sehr schön), wach.
Von der Mutter hatte er die panische Angst, den Teufel zu treffen, was sich leider noch bewahrheiten sollte. Sie brachte ihm auch das Gitarrespielen bei und machte ihn mit traditionellen Instrumenten, Liedern und der Kultur der Mapuche vertraut.



Später sollte Victor Jara auch noch das Elend der Stadtbewohner kennenlernen und als er 17 Jahre jung war, starb seine Mutter, die sich für die Familie quasi totgearbeitet hat.
Wann immer Victor Jara Ungerechtigkeiten sieht oder von Gewalt gegen seine Mitmenschen erfährt, greift er zur Gitarre. Und er prangert die Täter namentlich an.

Mitte der 60er-Jahre fragte ihn ein Journalist, warum er sein Leben von nun an dem Singen widmen wollte:

„Was um mich herum geschieht, berührt mich immer mehr. Die Armut in meinem eigenen Land, in ganz Lateinamerika und in anderen Ländern der Welt. Ich brauche das Holz und die Saiten einer Gitarre, um meiner Freude und Traurigkeit freien Lauf zu lassen.“

Seine Auftritte waren nicht ungefährlich für ihn und seine Mitkünstler. Bei einem Konzert an einer Schule wurden sie von den Extremen fast gelyncht.

Doch er ist vor der Gefahr, die gegen ihn gerichtet war, nie zurückgewichen. Im Gegenteil „ist er gegenüber der Intoleranz standhaft geblieben, er hat den Hass der anderen ertragen, ohne den Blick zu senken, und er hat mit seinen Wünschen und Taten die Entstehung der Demokratie begleitet“.

Und damit schließe ich und lege euch dieses Büchlein über einen wunderbaren Menschen ans Herz.

In dem Wikipedia-Artikel zu Victor Jara erfahrt ihr Näheres über die Aufarbeitung seiner Ermordung: Aktuell wurden am 4. Juli 2018 weitere acht ehemalige Offiziere wegen des Mordes an Victor Jara und den Gefängnisdirektor Littré Quiroga Carvajal zu 15 Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Dabei handelt es sich um Hugo Sanchez Marmonti, Raul Jofre Gonzalez, Edwin Dimter Bianchi, Nelson Haase Mazzei, Ernesto Bethke Wulf, Juan Jara Quintana, Hernan Chacon Soto und Patricio Vásquez Donoso. Ein weiterer Offizier, Rolando Melo Silva, wurde wegen Beihilfe zu fünf Jahre und 61 Tage verurteilt.

Hier findet ihr sein letztes Gedicht, das er vor seinem Tod im Fußballstadion von Santiago de Chile im September 1973 geschrieben hat.


8.6.19

Reiner Engelmann: Der Fotograf von Auschwitz: Das Leben des Wilhelm Brasse

Das Vorwort zu diesem Buch wurde von Max Mannheimer geschrieben. Selbst ein Überlebender, der fast die ganze Familie im Holocaust verlor, engagierte er sich bis zuletzt - er starb am 23. September 2016 in München - vor allem jungen Leuten zu erzählen, was Krieg bedeutet.

Wilhelm Brasse wurde am 3. Dezember 1917 in Zywiec geboren. Die Mutter hielt die Familie, es folgten noch drei Brüder, beisammen und vermittelte den Jungs ihre inneren Werte.
Als der Vater während der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit verlor, musste Wilhelm in die Lehre. Er wurde Fotograf und arbeitete nach der Gesellenprüfung bei seinem Onkel in Kattowitz im Fotoatelier.

Wilhelm war ein junger Mann, der, da die Stadt zur Hälfte mit Deutschen bevölkert war, auch Kontakt mit deutschsprachigen jungen Mädchen hatte. Sie zeigten ihm ihre Medaillons, in denen man normalerweise ein Foto des Liebsten hatte, doch in diesen befand sich ein Bild von Adolf Hitler. Das ließ ihn aufmerksam werden für die Anfänge und rasche Ausbreitung des Nationalsozialismus.
Kurz bevor der Zweite Weltkrieg ausbricht, kehrt Wilhelm Brasse wieder nach Hause zurück, weil er damit rechnet, in die Armee eingezogen zu werden. Viele Menschen entschieden sich für die deutsche Staatsangehörigkeit, doch Wilhelm Brasse lehnte ab, ja weigerte sich geradezu.

Seine Mutter war Polin, sie sprach nur polnisch, er zwar auch deutsch, aber Polnisch war seine Muttersprache, und er dachte polnisch, er fühlte polnisch, er war Pole.

Mit ein paar Freunden wollte er nach Frankreich, sich dem Widerstand anschließen. Doch man erwischte sie und nachdem er sich nach vier Monaten Gefängnis immer noch weigerte, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, ging sein Transport in Richtung Westen.
Wilhelm Brasse kommt am 31. August 1940 mit vielen anderen Männern, eingepfercht in einem Viehwaggon, in Auschwitz an. Er war gerade mal 23 Jahre jung.
Seit seiner Ankunft, als sie aus den Waggons getrieben und gleich mit Holzknüppeln geschlagen wurden, begannen all seine Fragen mit dem Wörtchen "Warum". Und es waren die Fragen, die ich mir heute noch stelle:

"Warum werden Menschen hier so gedemütigt?"
"Warum werden sie geschlagen?"
"Warum greift niemand ein?"
"Warum macht man uns hier zu Opfern?"
"Warum haben die Täter offenbar vergessen, dass sie Menschen sind? Aber sind sie es noch? So, wie sie sich verhalten?"

Die Männer durften nur ein Taschentuch und einen Hosengürtel behalten. Alles andere wurde ihnen abgenommen. Aber sie hatten eh nur das, was sie am Körper trugen. Und dann nahm man Wilhelm Brasse den Namen und er war nur noch eine Nummer: Häftling Nummer 3444.

Und so begann der Häftlingsalltag von Wilhelm Brasse, der unmenschlicher nicht sein kann.

Es ist wortwörtlich nicht zu fassen, was man den Häftlingen angetan hat. Wie soll man die Täter benennen? Sind es Monster? Das personifizierte Böse? Sind das wirklich noch Menschen?
Schon nach den ersten 50 Seiten fiel es mir so schwer, weiterzulesen. Dabei arbeitet Reiner Engelmann nicht mit Emotionen. Er zeigt durch Wilhelm Brasse die Fakten auf, das, was wirklich geschah.

Immer auf der Suche nach mehr Essensrationen, ging Wilhelm Brasse das lebensgefährliche Risiko ein, sich immer wieder neue Arbeitskommandos zu suchen.
Bis er am 15. Februar 1941 eine neue Aufgabe erhielt, in der er seinen Beruf als Fotograf ausführen würde. Er wurde in einen neuen Block verlegt, was wesentliche Lebensverbesserungen mit sich zog. Das erste Mal, seit er in diesem Lager ist, würde er in einem Bett schlafen. Es gab eine richtige Toilette und einen Waschraum, in dem er sich richtig waschen konnte.

Wilhelm Brasses Arbeit bestand nun darin, Fotos von Häftlingen zu machen. Jeweils drei Stück: mit Mütze, ohne Mütze von vorne und im Profil. Und sie durften keine Verletzungen im Gesicht haben.
Ab September 1941 wurden in Auschwitz erste Versuche durchgeführt, Häftlinge zu vergasen. 600 sowjetische Gefangene wurden dafür selektiert. Bei den ersten Versuchen dauerte es sechs Tage, bis alle Menschen im Raum tot waren.

Eines der erhalten gebliebenen Fotos von Wilhelm Brasse; es zeigt die 14-jährige Czesława Kwoka, die 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde.
Ich möchte nicht enden, ohne Czeslawa Kwoka dem Vergessen zu entreißen. Wilhelm Brasse beschäftigten viele Bilder, aber der Anblick dieses Mädchens verfolgte ihn wochenlang und ließ ihn nicht mehr los. Czeslawa Kwoka wurde zusammen mit ihrer Mutter am 13. Dezember 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau eingeliefert und Wilhelm Brasse musste auch sie fotografieren. Das junge Mädchen verstand überhaupt kein Deutsch. Als ein weiblicher Kapo ihre Nummer aufrief, konnte sie nicht reagieren. So schlug der Kapo sie mit einem Stock mitten ins Gesicht. Da er diesen weiblichen Kapo nicht kannte, konnte er nichts machen. Es kam ihm vor, als hätte er selbst diesen Stockschlag erhalten.

Ich wünsche diesem Buch viele Leser. Und nicht nur solche, die eh schon der Meinung sind, dass so etwas nie wieder passieren darf.
Ich wünsche, solche Bücher würden viel mehr an Schulen gelesen werden. Ich wünsche solche Bücher vor allem Lesern, die sich durch unsere politischen Parteien so verunsichern lassen und aus Protest den verkehrten Leuten hinterherlaufen.

Den Holocaustleugnern sei gesagt: Glaubt ihr wirklich, dass sich solche Erlebnisse ein normaler Mensch aus den Fingern saugt? Ihr solltet euch schämen, diese Menschen Lügner zu nennen.

6.6.19

Wilhelm Busch


Herausgegeben von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft e. V., Sitz Hannover, zum Besten des Wilhelm-Busch-Geburtshauses in Wiedensahl, des Wilhelm-Busch-Museums in Hannover und des Sterbehauses Buschs in Mechtshausen

Heinrich Christian Wilhelm Busch wurde am 15. April 1832 in Wiedensahl bei Hannover geboren.
Busch hatte sechs jüngere Geschwister. Da es zu Hause zu eng war, wurde er mit neun Jahren zur Erziehung zu seinem Onkel Georg Kleine geschickt. Der war Pfarrer in Ebergötzen bei Göttingen. Die Eltern sah er zum ersten Mal erst nach drei Jahren wieder. Der Onkel gab ihm Privatunterricht. Erich Bachmann, Sohn des Müllers im Ort, war Buschs Freund und durfte an dem Unterricht teilnehmen. Die Freundschaft hielt ihr ganzes Leben lang.
Die Familie Kleine zog mit Wilhelm im Herbst 1846 nach Lüthorst am Solling. Pfarrer Kleine konfirmierte ihn 1847. Wilhelm Busch war 15 Jahre alt.

Auf Wunsch des Vaters begann Wilhelm im selben Jahr ein Maschinenbaustudium am Polytechnikum in Hannover. 1851 brach er es allerdings ab. Er interessierte sich für die Malerei. So ging er auf die Kunstakademien in Düsseldorf, Antwerpen und München.
Wilhelm Busch trat 1854 dem Kunstverein „Jung München“ bei. Dann wollte er als Bienenzüchter in Brasilien ein neues Leben begonnen.
1858 starb seine Schwester Anna. Er befasste sich intensiv mit Aktstudien, Anatomie, Zeichnen und Malen.
Als Student verkaufte er 1865 die Rechte für „Max und Moritz“. Von seinem Verleger Kaspar Braun erhielt er 1.700 Goldmark (zu seiner Zeit etwa 1.000 Gulden). Kaspar Braun verdiente damit ein Vermögen. Erst im hohen Alter erhielt Busch 20.000 Goldmark als Ausgleich. Er spendete das Geld einem wohltätigen Zweck.

1864 entstand „Der Heilige Antonius von Padua“. Es erschien allerdings erst sechs Jahre später. 900 Gulden erhielt er dafür.
In seinen Werken spießte Busch klerikale Bigotterie und amtstheologische Verlogenheit auf.

Busch zog 1872 nach Wiedensahl. Er unternahm häufig Auslandsreisen nach Italien und in die Niederlande. Bis 1884 veröffentlichte er zum Beispiel „Fipps der Affe“ oder „Die fromme Helene“. 1898 zog er zu seinem neffen in Mechtshausen am Harz.

Regenlandschaft, undatiert

Busch malte mehr als 1.000 Ölbilder. Sie wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht. Seine Arbeiten werden durch die Stadt Hannover durch eine ständige Ausstellung im Obergeschoss des Wilhelm-Busch-Museums gewürdigt.

Wilhelm Busch starb am 9. Januar 1908 in Mechtshausen an Herzversagen.

5.6.19

Bianca Schlosser: Warten auf Lohengrin - Ein Leben zwischen Ötlingen und Dresden

Wie schön ist es, dass es noch Menschen wie Bianca Schlosser gibt: Die den Mut haben, ihre Familiengeschichten aufzuschreiben. In Erinnerungen zu wühlen, die zum großen Teil auch schmerzhaft sind. Bianca Schlosser, Jahrgang 1952, schreibt hier, mithilfe der Erinnerungen ihrer Mutter, die Geschichte ihrer Großmutter Elsa.

1914. Es ist Krieg. Doch der ist weit weg. In Ötlingen merkt man davon nichts. Hier geht alles seinen gewohnten Gang. Elsa, die uns hier ihre Geschichte erzählt, ist gerade 16 geworden. Sie erzählt von dem Leben in ihrem Dorf. Den Tagen voller Arbeit, aber auch der Zeit, die sie mit anderen Mädchen verbringen kann.
Ab und zu geht sie mit der Mutter in die nächste Kleinstadt, ein paar Dinge verkaufen. Dann drückt sie sich die Nase am Schaufenster eines Kaufhauses platt, in dem man fertige Kleider kaufen kann. Oder sie staunt über Automobile, die sie in ihrem Dorf nicht zu sehen bekommt.
Aber Ötlingen hat einen kleinen Bahnhof. Und Elsa muss endlich wissen, wie so eine Eisenbahn von innen aussieht. Als sie ihrer Neugierde folgt, wird das ein kleines Abenteuer, denn der Zug fährt plötzlich los und sie wird vom Schaffner erwischt.

An eben diesem Bahnhof holt der Krieg Elsa dann kurze Zeit später ein. Ihr Fritz, mit dem sie sich gerade erst einig geworden war, wird eingezogen. Und er geht mit Begeisterung; gegen die Franzosen. Wenn sie die besiegt haben, wird alles besser; zu Weihnachten ist er wieder da.

Doch es kommt alles anders, als es sich Elsa in ihren schönsten Träumen ausgemalt hat.

"Das darf nie mehr geschen" hat man schon nach dem Ersten Weltkrieg gesagt.

Durch Elsas Erzählung erfahren wir, wie sich schleichend der Zweite Weltkrieg anbahnt. Und am Ende kann es nur heißen

NIE wieder Krieg. NIE wieder Faschismus.

4.6.19

Bertha von Suttner

Foto mit Unterschrift, um 1886 entstanden
Bertha von Suttner wurde als Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau am 9. Juni 1843 in Prag geboren. Ihr Vater war Feldmarschallleutnant und starb noch vor ihrer Geburt; mütterlicherseits war sie mit Theodor Körner verwandt. Sie wuchs im aristokratischen Umfeld der österreichisch-ungarischen Monarchie auf. In jungen Jahren lernte sie mehrere Sprachen, beschäftigte sich mit Musik und unternahm viele Reisen.

Als die Mutter das Vermögen des Vaters durch ihre Spielleidenschaft aufgebraucht hatte, nahm Bertha eine Stelle als Gouvernante an. Den vier Töchtern der Familie des Industriellen Freiherr Karl von Suttner in Wien erteilte sie Unterricht in Musik und Sprachen. Während dieser Zeit verliebte sie sich in den sieben Jahre jüngeren Arthur Gundaccar von Suttner, den jüngsten Sohn der Familie. Bertha wurde entlassen, bekam aber eine Stelle bei Alfred Nobel in Paris. Da dieser jedoch bald nach Schweden berufen wurde, kehrte Bertha schon nach zwei Wochen nach Wien zurück, wo sie Arthur von Suttner am 12. Juni 1876 heimlich heiratete.

Arthur wurde enterbt, und so zog das Paar für mehr als acht Jahre in den Kaukasus. Hier begann Bertha von Suttner 1877 mit ihrer journalistischen Tätigkeit, die sie 1885 nach ihrer Rückkehr nach Wien fortsetzte. Sie verschrieb sich dem Pazifismus, wollte eine friedlichere Gesellschaft. In ihrem Buch „High Life“ thematisierte sie den Respekt vor dem Menschen und seiner Entscheidungsfreiheit.

Im Herbst 1889 veröffentlichte sie ihren Roman „Die Waffen nieder“, mit dem sie größtes Aufsehen erregte. Mit diesem Werk, das den Krieg aus der Sicht einer Ehefrau beschrieb, wurde sie zu einer der bekanntesten Vertreterinnen des Pazifismus.

Suttners Wohnhaus im ehemaligen deutschen
Viertel von Tiflis („Neu-Tiflis“)
1891 forderte Bertha von Suttner die Gründung einer „Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde“. Der Erfolg dieses Aufrufes war enorm, und Bertha von Suttner wurde zur ersten Präsidentin ernannt, die sie bis zu ihrem Tode 1914 blieb. In der Folge nahm sie an mehreren internationalen Friedenskongressen teil. Sie engagierte sich auch gegen Tierversuche, 1898 erschien ihre Schrift „Schach der Qual“. Darin heißt es: „Die Religion rechtfertigt nicht den Scheiterhaufen, der Vaterlandsbegriff rechtfertigt nicht den Massenmord, und die Wissenschaft entsündigt nicht die Tierfolter.“

Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1902 musste der Gutshof des Ehepaars versteigert werden, und Bertha von Suttner publizierte fortan in Wien. Sie reiste viel und nahm an verschiedenen Frauen- und Friedenskonferenzen teil. In deutsch-nationalen Kreisen wurde sie abschätzig die „Friedens-Bertha“ genannt.

Am 10. Dezember 1905 erhielt Bertha von Suttner den Friedensnobelpreis, den sie am 18. April 1906 in Kristiania, dem heutigen Oslo, entgegennahm.

In der Folgezeit warnte sie vor der internationalen Aufrüstung und machte ab 1912 auf die Bedrohung durch einen Vernichtungskrieg aufmerksam. Am 21. Juni 1914, kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, den Bertha von Suttner vorausgesehen hatte, erlag die überzeugte Pazifistin einem Krebsleiden.


3.6.19

Marina Vlady: Eine Liebe zwischen zwei Welten – Mein Leben mit Wladimir Wyssozki

Heute möchte ich euch ein Buch vorstellen, das ich abgöttisch liebe, und dass ich wie einen Schatz hüten werde. Ich habe es jetzt das zweite Mal gelesen und musste einfach drauf los schreiben, um euch diese beiden Menschen nahezubringen.

„Wie der ganze Saal bin ich bis ins Mark erschüttert von der Gewalt, der Verzweiflung, der unerhörten Stimme des Schauspielers.“

So erging es Marina Vlady 1967, als sie Wladimir Wyssozki das erste Mal auf der Bühne sah. Nach der Aufführung treffen sich die beiden und er gesteht ihr, dass er sie schon sehr lange liebt. Und das, wo er verheiratet ist, Kinder hat, doch er weiß, das Marina mal seine Frau wird. Und sie ist beeindruckt von ihm. Seine Augen haben es ihr angetan. Und seine Verwegenheit bringt sie aus der Verfassung. Und so treffen sie sich wieder.

Marina erzählt hier ihr Leben mit Wladimir, und sie spricht ihn dabei direkt an. Als wenn sie dieses Buch nur für ihn geschrieben hätte. Eine schöne Idee, wie ich finde.

Als Liebespaar ist es für sie nicht leicht. Niemand hat eine eigene Wohnung. Die Hotelzimmer sind Ausländern oder zugereisten Sowjetbürgern vorbehalten. Und so müssen sie die wenigen guten Freunde bitten, ihnen ihre Wohnung zu überlassen, was aber auch als ganz selbstverständlich angesehen wird.

Marina versucht alles, um Wladimir besuchen zu können. Mal wird sie zu einem Filmfestival eingeladen, dann schafft sie es, einige Wochen für Dreharbeiten einzureisen. Und dank ihrer beider Bekanntheit und der Bewunderung, die Wladimir in allen Schichten der Bevölkerung genießt, klappt es immer wieder mal.

Bei einem ihrer Besuche erleidet Wladimir einen Zusammenbruch. Er ist Alkoholiker und hat Glück, dass Marina schnell reagiert hat und ihn in ein Krankenhaus gebracht hat. Nach sechzehn Stunden des qualvollen Wartens erfährt sie, dass ein Blutgefäß in seiner Gurgel geplatzt ist und er keinen Schluck Alkohol mehr trinken darf. In den Ärzten, die ihn behandelt haben, haben sie lebenslange Freunde gefunden.

Marina erlebt, was der Zweite Weltkrieg in dem Land angerichtet hat. In einem Dorf erzählt ihr ein altes Muttchen, was sie hätte in vielen Dörfern erfahren können. Neun Frauen zwischen 15 und 45 leben 1944 in diesem Dorf. Die Deutschen sind zwar auf dem Rückzug, aber all ihre Männer sind an der Front oder bei den Partisanen umgekommen. Als ein kleiner Trupp junger sowjetischer Soldaten durchs Dorf kommt, fragt die Verwegenste den jungen Hauptmann:

„Worum ich Sie bitten will, wird Sie schockieren. Versuchen Sie uns zu verstehen. Der Krieg hat uns alle Männer genommen. Damit das Leben weitergeht, brauchen wir Kinder. Schenkt uns Leben.“

In dieser Nacht, die Marina und Wladimir in diesem Dorf verbringen, entstehen die meisten Lieder seines Zyklus über den Krieg.

„Bei deinen Konzerten hören dir ordensgeschmückte Veteranen unter Tränen zu, die jungen Leute sind nachdenklich und ernst. Deine Lieder vollbringen mehr für den Frieden und zur Ehre des Andenkens der Toten als alle Filme, Dokumente, Monumente und offiziellen Reden zusammen.“

Das Zusammenleben mit Wladimir ist nicht einfach. Immer, wenn Marina ihn für die Arbeit verlassen muss, triftet er ab. Trifft sich mit vermeintlichen Freunden, trinkt bis zur Besinnungslosigkeit. Die kleine Gruppe von Ärzten stehen ihnen immer bei und wenn sie ihm wieder mal das Leben gerettet haben, beginnt Marinas Arbeit. Sie schließt sich zum Entzug mit ihm ein. Für Wladimir ist es stets ein böses Erwachen. Denn danach kommen die Erinnerungen an das, was er angestellt hat.

Im Dezember 1969 heiraten die beiden.

Und dann beginnt der „Ehealltag“. Marina muss weiterhin viel reisen, für die Arbeit. Damals mussten immer noch Visa ausgestellt werden. Und die waren zeitlich begrenzt. Sie überlegte, mit der Familie ganz nach Moskau zu ziehen, doch das machten ihre Söhne nicht mit. Ferien? Ja. Aber nicht dort leben. Wenn sie nicht da war, trank Wladimir, sodass sie oftmals ganz schnell wieder einreisen musste. Sie war glücklicherweise sehr beliebt in der Sowjetunion, Wladimir sowieso. So war für sie einiges leichter.

Briefmarke Russlands, Wladimir Wyssozki, 1999, 2 rub. (Michel 761, Scott 6547)

Aber sie wollte ihrem Mann auch Paris zeigen, ihr Leben, ihre Freunde. Erst nach sechs Jahren stellten sie einen Antrag für Wladimir. Bei sechs Freunden hat es schon geklappt. Und keiner von ihnen ist in Frankreich geblieben oder hat aufsehenerregende Erklärungen abgegeben.

Nach Wochen des bangen Wartens ist die Entscheidung gefallen. Der Reisepass wird ihnen sogar ins Haus geliefert. Wladimir kann es gar nicht glauben.

Als Künstler lebt Wladimir ein unglückliches Leben. Er war beim Volk – und das in jeder Schicht – beliebt, doch offiziell erfährt er als Künstler keine Anerkennung. Ganz im Gegenteil: Jede dritte Theateraufführung wird nicht genehmigt, er muss Konzerte in dem Moment abbrechen, in dem er auf die Bühne gehen will. Und dann wird auch noch eine Krankheit vorgeschoben. „Weder Rundfunk noch Fernsehen haben jemals eines deiner Lieder gesendet. Keine Zeitschrift, keine Zeitung hat eine Zeile von dir publiziert.“ Glücklicherweise gab es das Wunder der Technik, namentlich: Tonbandgerät. Während seiner Reisen im Land und später auch im Ausland ist er immer wieder verwundert, wo die Leute ihn überall hören. Bis zum Schluss hat er vergeblich um offizielle Anerkennung als Dichter gerungen.

„Von den vierundzwanzig Stunden des Tages, der für dich immer zu kurz ist, verbringst du im Schnitt drei oder vier am Schreibtisch. Vor allem nachts. Als wir nur ein einziges Zimmer haben, schlummere ich auf dem Bett daneben ein. Später, in unserer großen Wohnung, versuche ich auf dem Sofa deines Arbeitszimmers ein bißchen zu schlafen, während ich warte, bis du kommst, mir das gerade Geschriebene vorzulesen. Dieser einzigartige Augenblick in der Stille der Nacht, wenn du mir sanft über das Gesicht streichst, um mich zu wecken, um mir mit geröteten Augen und einer vom zu vielen Rauchen rauhen Stimme deinen neuen Text vorliest, ist einer der intensivsten Momente in unserem Leben. Es ist jedesmal ein tiefes Gefühl, eine innige Gemeinsamkeit, du schenkst mir das Kostbarste, was du besitzt, dein Talent…“

Marina berichtet weiter über Episoden aus ihrer beider Leben. Und dann ist es vollbracht: Wladimir ist das erste Mal in seinem Leben im Ausland, in Freiheit:

„Auf der polnischen Seite werden wir kaum kontrolliert, und sobald die Grenze durch eine Baumgruppe verdeckt ist, halten wir an. Du tollst herum wie ein Zicklein, schreist dir mit aller Kraft dein Glück aus dem Leibe, die ganze Gewalt deiner langen Geduld, deines Ungestüms, das durch diese endlich erlangte Freiheit verzehnfacht wird. Die Grenze deines Landes überschritten zu haben, das du niemals verlassen zu können glaubtest, zu wissen, daß wir die Welt sehen, so viele Schätze entdecken werden, das macht dich vor Überschwang fast verrückt, wir sind beide wie beschwipst.“

In Paris dann gibt Wladimir ein kleines Konzert in einem Theater und ist glücklich, dass ihm die Leute zuhören. Seine erste Schallplatte im Westen entsteht. Marina und Wladimir stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie liest seine Texte auf Französisch vor und er spielt sich die Finger wund. Und dann steht er vor 200.000 Menschen auf der Bühne, die ihn auspfeifen, weil sie Rockgruppen erwartet haben. Doch er legt los und endet unter einem donnernden Applaus. „Ich hätte so lange draußen bleiben können, wie ich wollte, ich hab sie gekriegt!“ Bei seinen Glücksmomenten muss ich immer ganz tief Luft holen und ich bekomme feuchte Augen.


V.Vysotsky "Моя цыганская" (одна из последних его версий)


Und nun schließe ich schweren Herzens. Ich würde euch gerne weiter über die beiden wunderbaren Menschen berichten. Wie schon geschrieben, das Zusammenleben mit Wladimir war nicht leicht, vor allem wegen seiner Alkoholkrankheit. Und doch hat sie diesen Mann geliebt, respektiert, hat ihn für seine Kunst bewundert. Dieses Buch ist eine einzige wunderschöne Liebeserklärung an Wladimir Wyssozki, der leider viel zu früh gestorben ist.

Und mir fällt es so schwer, jetzt Schluss zu machen. Entschuldigt bitte den langen Text. Aber wenn mich ein Buch so richtig gepackt hat, dann kann ich nicht anders.

1.6.19

Oriana Fallaci: Die Wut und der Stolz

Oriana Fallaci arbeitete gerade an einem Roman, als die Katastrophe am 11. September 2001 über Amerika hereinbrach. Sie wusste nicht, was tun:

"Wie mich nützlich machen, zu etwas gut sein. Und genau während ich mich fragte was-soll-ich-tun, was-soll-ich-tun, zeigte mir der Fernseher die Palästinenser, die im Freudentaumel das Blutbad bejubelten. Sieg, Sieg, schrien sie. Dann erzählte mir jemand, dass ihnen in Italien nicht wenig nacheiferten und höhnisch meinten recht-geschieht-es-ihnen-das-geschieht-den-Amerikanern-ganz-recht, und ich stürzte an die Schreibmaschine, so wie ein Soldat, der aus dem Schützengraben auftaucht und dem Feind entgegenstürmt. Ich widmete mich dem Einzigen, wovon ich wirklich etwas verstehe, dem, was ich konnte. Schreiben."

Es sollte eigentlich ein Zeitungsartikel werden, doch das Ergebnis ihrer Arbeit war dieses Buch: Die Wut und der Stolz.

"... und außerdem wähle ich sowieso seit sehr vielen Jahren niemanden mehr. Ein Confiteor, das ich mir voller Angst und Unbehagen auferlege, denn nicht zu wählen ist natürlich auch eine Stimme: eine legale und legitime Stimme, mit der man ausdrückt fahrt-alle-zur-Hölle. Aber es ist auch die traurigste, tragischste Art zu wählen, die es gibt. Die Stimme des Bürgers, der sich in niemandem wiedererkennt, der niemandem vertraut, der infolgedessen nicht weiß, von wem er sich vertreten lassen soll, und sich daher verlassen betrogen allein fühlt..."

Sie hat ihrer Wut wirklich freien Lauf gelassen, die Oriana Fallaci. Ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne die Political Correctness zu beachten, hat sie ihre Wut über vor allem muslimische Verbrecher in die Welt hinausgeschrien. Und sie ist zu Gericht gegangen mit ihren eigenen Landsleuten und mit den Europäern.

Eine Persönlichkeit, die so kompromisslos ihre Meinung sagt und uns den Spiegel vorhält, so eine Persönlichkeit vermisse ich heute.

Astrid Dehe / Achim Engstler: Auflaufend Wasser

"Tjark nimmt den Seesack über die Schulter, setzt einen Stiefel auf den Bootsrand. Die beiden Ruderer regen sich nicht. Er zuckt die Achseln, springt auf den Sand. Die Insel muss er nicht sehen, die fühlt er, riecht sie, weiß sie vor sich."

Es ist ein Wintermorgen, der Tag vor Weihnachten im Jahre 1866. Tjark wird nicht erwartet zu Hause, eigentlich wollte er auf dem Festland für die Steuermannsprüfung lernen.
Er hakt seinen Seesack fester über die Schulter und macht sich auf den Weg. Eine Stunde bis Westdorf durch den dichter werdenden Nebel.
Und dann wird er unsicher, läuft wie verirrt kreuz und quer, zählt Schritte, malt Zahlen in den Sand, die sofort vom Wasser verschluckt werden. Und muss sich schließlich eingestehen: "Du stehst nicht am Ostrand der Insel. Du stehst auf einer Plat."

Verschiedene Möglichkeiten gehen ihm durch den Kopf, doch sie sind allesamt nicht durchzuführen. Er kommt hier nicht weg.

"Er muss ausharren, auf den Beinen bleiben, Zeit gewinnen, Zeit für das Unmögliche, eine Zusammenballung von Zufällen, eine Kette von Ereignis und Entscheidung, unwahrscheinlicher als die, die ihn in diese Lage gebracht hat."

Als Leserin bleibt mir nur, mit Tjark mitzuhoffen, mitzuhadern, zu schreien, zu zittern, zu wimmern. Zu sehen, wie er um seine Zukunft, die klar vor ihm lag, gebracht wird. Wie er mit Gott hadert.

Doch dann kommt der Augenblick, wo er mit ihm ins Reine kommen muss.

Ein Taschenbuch, ein Bleistift, ein Halstuch und eine Kiste: Das ist alles, was von Tjark Evers übrig bleibt. Diese Dinge befinden sich im Inselmuseum, das früher ein Zollhaus war, auf Baltrum.
Tjark Ulrich Honken Evers wurde am 21. Dezember 1845 auf Baltrum geboren und er starb am 23. Dezember 1866 im Watt zwischen Langeoog und Baltrum. Durch seinen frühen Tod wurde er in Ostfriesland zur Legende.

Tjarks kurzes Leben wurde weiterhin thematisiert in Liedern

auf Plattdeutsch: https://www.versengold.com/news/neue...ark-evers.html

auf Hochdeutsch:



in einem Kurzfilm:
Die Zigarrenkiste - nach einer wahren Begebenheit:


und in einer Dokumentation:


Wer hat es noch gelesen?