31.7.19

David Foenkinos: Charlotte

Das Cover ziert ein Selbstbildnis von Charlotte. Ernst schaut sie darauf aus. Ein schönes Leben hat sie aber auch nicht gehabt.

Als ich das Buch aufschlug, habe ich mich gewundert: Verse? David Foenkinos hat seine ganz eigene Art, über das Leben der Charlotte Salomon zu schreiben. Er erklärt es, und dann passt es auch. Ich empfinde jeden Satz wie in Stein gemeißelt. Keine Schnörkel. Nur, worauf es ankommt.

Zu Beginn erfahre ich, wie sich Charlottes Eltern kennengelernt haben. Als sie dann geboren wurde, bekam sie den Namen ihrer Tante Charlotte, Schwester ihrer Mutter, die von der Brücke ins eisige Wasser sprang und einen qualvollen Tod starb.
Als Charlotte neun ist, bringt sich ihre Mutter um, springt aus dem Fenster. Es liegt wohl in der Familie.

Das erste Weihnachtsfest ohne die Mutter. Charlotte spielt ein bisschen Theater, damit es nicht ganz so traurig ist.

Es ist 1930, der Vater lernt die Konzertsängerin Paula kennen und als er Charlotte eröffnet, dass sie heiraten werden, ist diese glücklich. Und mit Paula zieht Leben in die Wohnung. Kunst und Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Erich Mendelsohn oder Albert Schweitzer. Charlotte wird zur leidenschaftlichen Leserin: Goethe, Hesse, Remarque, Nietzsche und Döblin verschlingt sie regelrecht.
Doch sie hat keine Freunde. Nur Paula.

1933. Ein Jahr, bevor Charlotte ihr Abitur machen kann, muss sie die Schule verlassen. Der Hass gegen die Juden schlägt Wellen. Paula darf nicht mehr auftreten. Die vom Vater erbrachten medizinischen Leistungen werden nicht mehr abgerechnet. Bücher werden verbrannt.
Doch immer noch halten einige an dem Glauben fest, dass alles schnell vorbei geht. Doch Charlotte, jung wie sie ist, glaubt nicht daran.

"Das sind nicht ein paar Spinner, das ist ein ganzes Volk.
Das Land wird von einer gewalthungrigen Meute regiert."

In dieser Zeit entdeckt Charlotte ihre Liebe zur Malerei. Die Großeltern nehmen sie mit nach Italien, wo sie die Berufung zur Künstlerin spürt.

Zurück in Deutschland holt sie die Wirklichkeit ein. Die Großeltern verlassen das Land.

Warum glauben so viele zu dieser Zeit immer noch, dass alles gut wird?

Charlotte schafft es, an der Staatsschule für Freie und Angewandte Kunst zu studieren.

Und dann erfahren wir vom Autoren, wie er Charlotte gefunden hat. Und wie er gegrübelt hat, über sie zu schreiben:

"Dann fing ich an, mir Notizen zu machen.
Notizen über Notizen, jahrelang.
Ich blätterte dauern in meiner Ausgabe von Leben? Oder Theater?
Charlotte fand in meinen anderen Romanen Erwähnung.
Ich saß immer da und wollte dieses Buch schreiben.
Aber wie?
Durfte ich selbst darin vorkommen?
Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?
Welche Form sollte das Ganze annehmen?
Ich schrieb, löschte, kapitulierte.
Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.
Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Das war körperlich beklemmend.
Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.

Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste."

Die Lage wird immer brenzliger. Kristallnacht. Der Vater wird abgeholt. In ein Lager gebracht und kommt nach Wochen wieder nach Hause. Paula kennt noch einige Leute, die ihr wohlgesonnen sind. Doch er ist kaum mehr zu erkennen.
Charlotte soll zu den Großeltern nach Frankreich. Sie brauchen lange, um sie zu überzeugen. Und sie gibt nur widerstrebend nach und verlässt das Land und ihren Liebsten Albert.

Doch auch in Frankreich marschiert der Feind ein. Um nicht verrückt zu werden, malt Charlotte. Malt ihr ganzes Leben. Und dann, bevor es zu spät ist:

"Nun steht Charlotte vor Moridis' Tür.
Sie läutet.
Der Doktor selbst macht ihr auf.
Ah... Charlotte, sagt er.
Sie erwidert nichts.
Sie schaut ihn an.
Und hält ihm ihren Koffer hin.
C'est toute ma vie, sagt sie schließlich."

Mordis haben wir es zu verdanken, dass wir diesen Satz kennen.
C'EST TOUTE MA VIE.
Das ist mein ganzes Leben.

Charlotte lernt Alexander kennen. Eine neue Liebe? Sie wächst nur sehr langsam. Und sie wird schwanger.

Die beiden heiraten und leben in der Villa L'Ermitage. Doch sie werden denunziert. Ein Anruf bei einem der grausamsten SS-Männer, Alois Brunner, ging ein und verrät die junge deutsche Jüdin.

"Der Lastwagen fährt leise vor.
Die Soldaten haben die Scheinwerfer abgeblendet.
Dann betreten sie von zwei Seiten den Garten.
Charlotte kommt gerade aus dem Haus.
Sie läuft den Soldaten regelrecht in die Arme.
Die Männer greifen zu, packen Charlotte am Arm.
Sie schreit aus vollem Hals.
Schlägt um sich, will weglaufen.
Einer der Männer zieht sie heftig an den Haaren.
Und tritt sie in den Bauch.
Charlotte fleht um Gnade, sie sei doch schwanger.
Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen.
Den Männern ist das vollkommen egal."

Eingepfercht in einem Zug kommen Charlotte und Alexander in dem Durchgangslager Drancy an, dem Wartezimmer des Todes.

Dann müssen sie wieder in einen Zug. Drei Tage später sind sie am Ziel. Über einem Eingangstor ist zu lesen: Arbeit macht frei.
Bei der Registrierung werden Charlotte und Alexander getrennt. Alexander bricht nach drei Monaten tot zusammen.
Für Charlotte bleibt der Weg in die Duschbäder.

Und ich? Ich sitze hier und weine und weiß nicht, wohin mit meiner Wut.

Aber Charlotte hat ein Platz in meinem Herzen.

Marina Bohlmann-Modersohn: Clara Rilke-Westhoff

Ein Leben für die Kunst

Clara Henriette Sophie Westhoff ist 17 Jahre jung und möchte unbedingt nach München. Um 1900 gilt München neben Paris als führende Kunststadt Europas. Aber weiß Clara, welche Widerstände ihr begegnen werden? Auch wenn die Eltern ihre Liebe zur Malerei gefördert haben, Malerinnen sind in der Unterzahl. Noch dazu solche, die ihr Geld damit verdienen können. Das können die Herren der Schöpfung nicht zulassen.

"Ist ihr bewusst, wie groß die männliche Konkurrenz ist, wie verschworen die Bünde der Meistermaler, die malende junge Frauen als Dilettantinnen verhöhnen und ihnen das Tor zu einem Akademiestudium immer noch verschlossen halten? Kann sie sich ein Bild machen, wie schwierig die Lebensbedingungen speziell für Künstlerinnen sind und schließlich: Wie kaum vereinbar Leben und Kunst?"

Doch solche Fragen stellt sich die 17-Jährige noch nicht. Und so packt sie im Oktober 1895 ihre Koffer.
München lockt nicht nur Maler. Auch Musiker, Meister der Lebenskunst und Schriftsteller lassen sich hier nieder. Der junge Thomas Mann arbeitet für Albert Langen als Lektor und schreibt an seinem "Buddenbrooks".
Clara besucht hier die private Malschule von Friedrich Fehr und Ludwig Schmid-Reutte in der Theresienstr. 71. In Briefen nach Hause äußert sie sich abschätzig über Frauen, die nur für den Hausgebrauch malen wollen. Und sie erkennt schnell diejenigen, die eine künstlerische Karriere beabsichtigen.
Nach mehr als zwei Jahren kann sie dem Vater, der ihr Studium finanziert, noch nichts vorweisen. Nichts scheint ihr gut genug, um es ihm zu zeigen. Aber es zieht sie nun von München nach Worpswede.
Hier wird die mittlerweile 20-jährige Clara im Frühjahr 1898 Schülerin von Fritz Mackensen. Und ihr Berufswunsch malt sich hier ab: Bildhauer möchte sie werden.
Auf Paula Becker, die ebenfalls in Worpswede ist, macht Clara großen Eindruck:

"Da ging mir heute ein Licht auf bei Fräulein Westhoff. Die hat jetzt eine alte Frau modelliert, innig, intim. Ich bewundere das Mädel, wie sie neben ihrer Büste stand und sie antönte. Die möchte ich zur Freundin haben. Groß und prachtvoll anzusehen ist sie und so ist sie als Mensch und so ist sie als Künstler."

Die beiden Frauen haben früh den Aufbruch gewagt, haben studiert und wollen sich gegen alle Vorurteile und Widerstände in der Kunstwelt behaupten, wollen die Kunst zu ihrem Beruf machen.

Aus Briefausschnitten, die die Autorin für das Buch verwendet hat, erfahren wir, wie sehr die Frauen damals kreativ sein wollten, lernen wollten, etwas schaffen wollten. Sie gingen auf Reisen, zu Ausstellungen. Im Reisegepäck das Tagebuch der Marie Bashkirtseff, eine russische Malerin, deren Gemälde in Frankreich entstanden sind.

Sie versuchten, nebenher Geld zu verdienen, um sich weiterzubilden. Auch wenn das bedeutete, Auftragsarbeiten zu erledigen.

1900 kommt Rilke nach Worpswede. Er ist unglücklich, da ihn seine Liebe Lou Andreas-Salomé verlassen hat. Hier lernt er Paula Becker und Clara Westhoff kennen. Er besucht Ausstellungen, die Hamburger Kunsthalle. "Mir ist, ich lerne jetzt erst Bilder schauen", schreibt er in sein Tagebuch. Und er beschließt, in Worpswede zu bleiben.

Die Biografie ist sehr interessant geschrieben. Besonders aufgewertet wird sie durch die vielen Briefzitate. Die geben einen ganz privaten Einblick in das Leben der Künstler, die hier auftauchen. Ob es nun die Freundschaft zwischen Clara Westhoff und Paula Becker betrifft oder die jeweiligen Ehen der Frauen mit ihren Männern, die so ganz unterschiedlich verlaufen. Paula ist finanziell abgesichert durch ihren Mann, kann sich also ganz ihrer Kunst hingeben. Die Freundschaft zu Clara bekommt einen Riss, als diese Rainer Maria Rilke heiratete und Mutter wurde. Von Rilke erfahren wir, wie schwer er es mit seiner Familie hat. Weder er noch Clara haben Arbeit. Er möchte aber, dass sie beide in ihrer jeweiligen Kunst tätig sein können.
Wird es ihnen gelingen? Oder bleibt es für sie zu Lebzeiten eine brotlose Kunst? Das lest selbst.

29.7.19

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes

Aus dem Hebräischen übersetzt von Inka Arroyo Antezana sowie Anne Birkenhauer und Noa Mkayton

1978, während eines internationalen Kongresses in Polen, fuhr Otto Dov Kulka nach Auschwitz. Er flog nach Krakau und von dort weiter mit einem Taxi. Und während der Taxifahrer erzählt und erzählt, reagiert er nicht mehr auf seine Worte und beginnt sich zu erinnern:

"Ich nehme nicht mehr auf, was er sagt. Ich nehme vielmehr diesen Weg auf. Spüre plötzlich, dass ich an diesen Orten schon einmal gewesen bin. Ich kenne die Schilder, diese Häuser. 
Obwohl es eine andere Landschaft gewesen war, eine nächtliche Winterlandschaft, vor allem in der ersten Nacht, aber dann auch eine Landschaft bei Tag, und ich verstand etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: dass ich in der Gegenrichtung auf jener Straße fuhr, auf der man uns am 18. Januar 1945 und in darauffolgenden Tagen hinausgeführt hatte, hinaus aus diesem unheimlichen Getriebe, aus dem, da war ich mir sicher, da waren wir uns alle sicher, es kein Entrinnen gab."

Auf diese Straße hinaus führte der, wie man es später nannte, Todesmarsch. Am eindrücklichsten bleibt ihm die nächtliche Farbe in Erinnerung, dann schwarze Flecken, die im blendenden Weiß des Schnees liegen. Bis er begreift, dass es menschliche Leichen waren, die seinen Weg säumten.

Wir erfahren bruchstückhaft, wie es in Auschwitz zuging. Eine Stelle blieb mir besonders im Gedächtnis: Das Hervorheben der Ängste, die die Menschen erlitten haben, die auf die Gasbaracken zugehen mussten und die genau wussten, was sie dort erwartet.

Es ist kein Erinnerungsbuch. Der Autor hat Jahrzehnte keines der Art, wie wir sie kennen, geschrieben. Es sind vielmehr die Empfindungen eines zehnjährigen Jungen, der er damals war. Der es geschafft hat, zu überleben. Er schrieb es in einer fast poetischen Sprache.

26.7.19

Blick ins Regal #1

Moin, ihr Lieben,

seid ihr neugierig, wen ich alles in meinen Regalen beherberge? Mittlerweile sind es so viele Persönlichkeiten, dass ich es selbst nicht mehr weiß. Also dachte ich, ich zeige euch jeden Freitag ein paar meiner biografischen Bücher.

Los geht es mit einem Autoren, von dem ich dachte, dass ich all seine Bücher schon habe. Doch da lag ich falsch. Bei Twitter zwitscherte jemand einige Zitate von Walter Kempowski, der ja, wie ihr euch vielleicht erinnern könnt, aus meiner Heimatstadt Rostock kommt und für mich der deutsche Chronist überhaupt ist. So freue ich mich nun auf:


Walter Kempowski: Umgang mit Größen - Meine Lieblingsdichter - und andere

Von Goethe zu Thomas Bernhard, von Adalbert Stifter zu Johannes Mario Simmel: Walter Kempowski war ein passionierter Leser und beschäftigte sich gerne mit seinen "Konkurrenten". Die Schriftstellerporträts aus Kempowskis Nachlass bestechen durch ihre radikale Subjektivität und ihre Mischung aus Bewunderung und Respektlosigkeit. Sie sind ein origineller Streifzug durch das Panoptikum der Weltliteratur.



Sofja Andrejewna Tolstaja: Tagebücher 1862 - 1910 - 2 Bände

Am 23. September 1862 heiratet in Moskau in der Hofkirche "Mariä Geburt" der vierunddreißigjährige Schriftsteller Lew Tolstoi die achtzehnjährige Sofja Andrejewna, Tochter des Hofarztes A. J. Bers. Zwei Wochen darauf, am 8. Oktober, beginnt die junge Frau ihr Tagebuch, das sie anfänglich mit großen Unterbrechungen schreibt und zwei Tage nach dem Tod ihres Mannes, am 9. November 1910, schließt. Achtundvierzig Jahre liegen zwischen diesen beiden Daten, fast ein halbes Jahrhundert, das in Rußland geprägt ist von einer stürmischen politischen und geistig-kulturellen Entwicklung. Wenig davon reflektiert das Tagebuch, es bleibt privat, intim, berichtet über Familienereignisse, Familienleben, über Schaffensprobleme des Mannes und seinen Bekanntenkreis, der weit über die Grenzen des Landes reicht. Es verzeichnet sehr detailliert den tragischen, sich in Extremen bewegenden Verlauf einer Ehe. Schon die ersten Eintragungen lassen die Konflikte erkennen, die später, in den achtziger Jahren, der Zeit der geistigen und weltanschaulichen Krise Tolstois, offen zutage treten, schwere Auseinandersetzungen nach sich ziehen und schließlich, im Oktober 1910, zu Tolstois Flucht aus Jasnaja Poljana führen. Doch trotz der unterschiedlichen Lebensauffassungen, der beinahe unüberbrückbaren Gegensätze und bei allen Vorwürfen, die Sofja Andrejewna Tolstaja gegen ihren Mann erhebt, betont sie, wie sehr sie ihn liebt und schätzt, und geht oft hart mit sich ins Gericht. Aber auch Tolstoi, der vor allem in seinem letzten Lebensjahrzehnt sehr unter dem Widerspruch zwischen seiner Lehre und seinem Leben leidet, versichert immer wieder, daß ihm viel an ihrer Liebe, ihrer Freundschaft und ihrem Verständnis gelegen ist.


Gerhard Fritsch: Man darf nicht leben, wie man will - Tagebücher

Es ist Zeit für die Wiederentdeckung eines radikalen Autors.
Der Alleingang von Gerhard Fritsch, der über sein Tagebuch direkt zu seiner Literatur führt, war von einer mit Thomas Bernhard vergleichbaren Radikalität, doch Fritsch hat seine Literatur auf Teile der eigenen Person hin transparent gemacht, über die man im Österreich der 1950er und 1960er Jahre nicht ungestraft reden durfte.

Klaus Kastberger



Agatha Christie: Meine gute alte Zeit - Eine Autobiographie

Agatha Mary Clarissa Miller, geschiedene Christie, lebte ein ungemein interessantes, abwechslungsreiches Leben - reich genug an Situationen und Ereignissen, dass sie beschloss, es bis in die faszinierenden Verästelungen ihrer Person und Zeit hinein aufzuzeichnen. Ohne Poirot oder Miss Marple zu vernachlässigen, schrieb sie nahezu zwanzig Jahre daran.
Und so haben ihre Memoiren das, was echte Grösse ausmacht: Lebendigkeit, farbige Dichte, Distanz, Beobachtungslust, Humor, den Blick für das Wesentliche einer Zeit und ihrer Menschen, Toleranz und unglaublich viel Charme.

Oriana Fallaci: Nichts und Amen

"Eine lange Zeit in meinem Leben krankte ich an Heldentum, und hier in Vietnam bekam ich einen Rückfall, doch jetzt habe ich mir geschworen, es von mir zu weisen. Akzeptiert man das Heldentum, akzeptiert man auch den Krieg. Und den Krieg darf und kann und will ich nicht akzeptieren."

Oriana Fallacis Kriegsbericht aus Vietnam - eines der eindrucksvollsten Anti-Kriegsbücher

"Ja. Das Leben, was ist das?"
"Etwas, das man gut ausfüllen muss, ohne Zeit zu verlieren. Auch auf die Gefahr hin, daß es zerbricht, wenn man es gut ausfüllt."
"Und wenn es zerbrochen ist?"
"Dann ist es nichts mehr wert, nichts und Amen."



Paula Busch: Das Spiel meines Lebens - Erinnerungen

Berlin und der Circus Busch - untrennbar miteinander verbunden für mehr als ein halbes Jahrhundert. In dem mächtigen Kuppelbau am Bahnhof Börse in der City residierte Paula Busch, die Grande Dame des deutschen Zirkus. Ihr Leben war eins mit Berlin bis in die siebziger Jahre hinein.
Fünfzig Jahre Zirkus mit Erfolgen und Niederlagen, ein Leben voller interessanter Begegnungen - in diesem Bericht wird es nachgezeichnet von einer gescheiten, ehrgeizigen Frau, deren Herz bis zuletzt für den Zirkus und für Berlin schlug.


So, das wäre es für den Anfang. Vielleicht lasst ihr mir einen Kommentar hier, ob dieses Format Anklang findet. 

Anne Delbeé: Der Kuß - Kunst und Leben der Camille Claudel

Camille Claudel liegt in einem eiskalten Krankenhauszimmer und geht dem Tod am 19. Oktober 1943 ganz alleine entgegen.
Dann ein Schwenk in die Vergangenheit, Camille ist 13 Jahre jung.

Camille Claudel wusste schon in jungen Mädchenjahren, was sie werden wollte: nämlich Bildhauerin. Ihr Vater verstand sie, unterstützte sie sogar in ihrem Vorhaben. Mit der Mutter allerdings kam sie nicht gut klar, fragte sich oft, warum sie von ihr gehasst wird. Als die Familie nach Paris zieht, tut sich ihr eine ganz neue Welt auf.

Ein kleiner Ausschnitt aus einem Brief aus der Anstalt lässt am Ende manchen Kapitels neugierig weiterlesen:

" ...Wie es scheint, hat mein karges Atelier - die paar armseligen Möbel und einige von mir selbst verfertigte Werkzeuge -, hat mein armer kleiner Hausrat nun auch noch ihre Habgier entfacht!"

Frauen, die genau wussten, was sie wollen und das auch leben wollten, hatten es früher ganz besonders schwer. Um ihre Träume zu verwirklichen, mussten sie ja teilweise sehr rücksichtslos gegenüber ihren Mitmenschen sein. Mutig sein, weil sie gegen gesellschaftliche Konventionen verstießen:

"Passen Sie auf, Mademoiselle Camille, knöpfen Sie Ihre Bluse gut zu. Man wird leicht für etwas gehalten, das man nicht ist. Ein gutes Gewissen allein reicht auf dieser bösen Welt nicht aus."

Die Mutter hält ihre Leidenschaft zum Bildhauern für Quatsch. Der Vater unterstützt die Familie zwar, aber Atelier, Modelle, Werkzeuge und Materialien kosten natürlich Geld, das der Familie anderswo fehlt.

Brief aus der Anstalt
"... Was mich betrifft, so bin ich über den Fortgang meines Lebens hier so verzweifelt, daß ich nicht mehr ein menschliches Wesen ... Ich kann die Schreie all dieser Geschöpfe nicht mehr ertragen, es bricht mir das Herz. Mein Gott! Wie ich mich nach Villeneuve sehne! Ich habe nicht all das getan, was ich getan habe, um namenlos in einem Irrenhaus zu enden, ich habe Besseres verdient..."

Allzu gut sieht man anhand der Biografie von Camille Claudel, wie schwer es Frauen hatten, ihrem Lebenstraum zu folgen. Sie war eine sehr gute Bildhauerin. Während Rodin, dessen Schülerin sie war und auf die sie auch fast reduziert wurde, einen Auftrag nach dem anderen bekommt und genug Gehilfen hat, arbeitet sie Tag und Nacht selbst an ihren Werken. Auf Gehilfen kann sie sich nicht verlassen. Da sie nicht so viel zahlen kann, machen die keine gute Arbeit und zerstören mehr, als dass sie behilflich sind, sodass monatelange Arbeit umsonst war.
Sie verkauft kaum etwas, es kommt kein Geld rein. Selbst, wenn sie einen Auftrag bekommt, wie soll sie den durchführen? Sie hat Sehnsucht nach dem Bruder, der sich nach Shanghai aufgemacht hat.

Sobald ihr Vater gestorben war (sie wurde nicht einmal über dessen Tod informiert), wurde Camille Claudel von der Mutter und dem Bruder Paul in eine Anstalt gesteckt. Ihre Wohnung wurde aufgebrochen und man brachte sie gegen ihren Willen dorthin. Anfang der 20er Jahre hätte sie entlassen werden können, doch die Mutter, die sie nie besucht hatte, lehnte dies entschieden ab.
So vegetierte Camille die letzten 32 Jahre bis zu ihrem Tod 1943 in psychiatrischen Anstalten, vergessen und ohne jemals wieder arbeiten zu können, dahin.


"Camille Claudel - Künstlerin, Muse und Modell"
Film von Dominik Rimbault


24.7.19

Alexander Sury: Ruth Binde - Ein Leben für die Literatur

Ruth Binde ist eine äußerst interessante Frau, Persönlichkeit.

"Dein Leben ist zu interessant, man kann es nicht einfach so zur Seite legen", schrieb Lukas Bärfuss nach der Lektüre der Biografie der Presseagentin Ruth Binde. Und Siegfried Lenz, den sie vor Jahren für den Hoffmann & Campe Verlag betreute, meinte: "Ohne den Beistand von Ruth Binde, kann man in der Schweiz nicht heimisch werden."

Laut Inhaltsangabe unterstützte Ruth Binde 15 Jahre lang den Aufbau des Diogenes-Verlages. Ich finde das sehr tief gestapelt. Da hilft auch das beigefügte Wörtchen "maßgeblich" nicht. Sie fing als "Mädchen für alles an", lektorierte, übernahm dann die Pressearbeit und bekam zusätzlich noch den Aufbau eines Theaterverlags aufgenackt. Und all das in einem Halbtagsjob. Mit einem Mann, der beruflich in seiner Arbeit aufging, kaum zu Hause war, später eine Freundin hatte und einem kleinen Kind.

Keine Frage, Ruth Binde liebte ihre Arbeit und sie betont, wie viel sie von Daniel Keel gelernt hat.
Als in immer kürzeren Abschnitten immer mehr Verlagsmitarbeiter kündigten, und sie das Gespräch mit Daniel Keel suchte, meinte er lapidar, sie könne ja gehen, wenn ihr was nicht passt. Und sie nahm ihn beim Wort. Sein Blumenstrauß und eine Entschuldigung konnten das nicht wieder gut machen. Sie sah nicht, dass das ehrlich gemeint war. Rudolf C. Bettschart, der den Verlag Mitte der 60er Jahre vor der Insolvenz rettete, sprach die letzten Wochen, bevor sie schlussendlich ging, kein Wort mehr mit ihr. Er meinte nur, dass sie einen Psychiater bräuchte.
Kein Wort der Anerkennung für ihre geleistete Arbeit!!!

Was Ruth Binde in diesem Verlag geleistet hat, erkennt man vielleicht daran, dass nach ihrer Kündigung (die übrigens ein Sprung ins kalte Wasser war) für ihre Tätigkeiten drei neue Leute eingestellt wurden.
Doch was nun? Mut machten ihr zahlreiche Reaktionen von Verlagsleuten, Journalistinnen und Redaktoren. Hier einige Beispiele:

Peter Zeindler, damals Kulturchef beim Schweizer Fernsehen:
"Ich könnte mir vorstellen, dass es für Herrn Keel nicht einfach sein wird, einen ebenbürtigen Nachfolger zu finden."

Margrit Sprecher, Journalistin, damals bei der "Elle":
"Sie werden uns bei Diogenes sehr, sehr fehlen, denn manche unserer besten Dinge verdanken wir Ihnen und Ihrer ,raschen Schaltung'."

Ruth Liepmann, Literaturagentin, erlitt einen "richtigen Schock":
"Ich habe Ihre Arbeit seit vielen Jahren verfolgt und Sie sehr bewundert, wie Sie sozusagen aus dem Nichts bei Diogenes den Theaterverlag aufgebaut und wie Sie die Nebenrechte verwaltet haben."

Doch wie soll es nun weitergehen? Sie muss schnell eine Arbeit finden. Die Alimente kommen nur unregelmäßig und sie hat immer nur halbtags gearbeitet. Andere Leute würden Stellenangebote studieren. Aber Ruth Binde will sich eine auf ihre Fähigkeiten zugeschnittene Position schaffen, etwas Neues: Presseagentin im Kulturbereich mit Schwerpunkt Buch.
Und sie schafft es: Nach einem Besuch in Hamburg beim Verlag Hoffmann und Campe wird sie dessen Presserepräsentantin für die Schweiz und Österreich.

Aber auch außerhalb des Verlages nimmt sie Aufträge an. Und so folgen viele Namen von Künstlern, von denen mir die meisten nicht bekannt sind. Doch über Ruth Binders vielseitige Tätigkeit zu lesen, ist äußerst interessant.
Aus der Erinnerung weiß sie nicht mehr, warum sie bei Hoffmann und Campe gekündigt hat; sie glaubt, weil der Verlag ihrer Forderung nach mehr Geld nicht nachkam. So kam sie zum S. Fischer Verlag. Auch hier "sind die Kontakte mit den Autorinnen und Autoren für sie die ,Konfitüre auf dem Brot'".

Der Fischer Verlag war für Ruth Binde nicht die letzte Station. Doch wie ihr Weg weiter verlief, lest selbst.

Für viele Leser und Buchfreunde hatte Ruth Binde sicherlich den perfekten Beruf. Doch es war mehr: Es war tatsächlich ein Leben für die Literatur.

Ruth Binde an ihrem 80. Geburtstag im März 2012:
"Ich weiß, dass ich auf dem Papier alt bin. Aber alt fühle ich mich erst, wenn ich nicht mehr lesen, nicht mehr meinen Balkon bepflanzen, nicht mehr meine Konfitüren einmachen und nicht mehr meine Freunde bewirten kann."

Ruth Binde zu Gast beim Glogger-Talk

23.7.19

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

"75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG", an diesen Satz denkt Uwe Timm öfter, während er versucht, dem 16 Jahre älteren Bruder, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, durch sein Tagebuch und seine Frontbriefe näherzukommen.

Meine Großtante ist Jahrgang 1911, hat zwei Weltkriege überlebt. Von meinem Onkel habe ich mal erfahren, dass sie während des Zweiten Weltkrieges Leute bei sich versteckt hatte. Ob es Juden waren oder Kommunisten, ich weiß es nicht. Ich habe mal leise versucht anzufragen, weil ich natürlich neugierig war. Aber sie hat nie etwas über diese Zeit erzählt. Und sie brauchte nicht mal ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat etwas getan.

Wie schwer mag es da wohl gewesen sein, von jemandem, der aktiv mitgemacht hat oder der weggeschaut hat, etwas zu erfahren? Hatten sie ein schlechtes Gewissen? Oder haben sie sich gerechtfertigt? "Wir haben doch nichts gewusst", hieß es doch immer.
Uwe Timm hat an diesem Buch erst gearbeitet, als seine Eltern nicht mehr lebten. Hatte er Angst vor den Antworten?

"75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG." Jedesmal wenn ich diesen Satz las, bekam ich eine Gänsehaut. Wie oft mag sich Uwe Timm die Frage gestellt haben: Hat mein Bruder geschossen?

Uwe Timm ist es wunderbar gelungen, an das Thema Schuld, Verdrängung, Verantwortung heranzugehen.

Elke Heidenreich meint zu diesem Buch: "Die Jungen sollten es lesen, um zu lernen, die Alten, um sich zu erinnern, und alle, weil es gute Literatur ist."

Ich kann mich ihren Worten aus tiefstem Herzen anschließen.

21.7.19

Thomas Franke: Das Haus der Geschichten

Eine eigenartige Apotheke

Das Haus der Geschichten von Thomas Franke beginnt nicht nur ganz interessant, es hat auch einen wunderbaren Schutzumschlag.

Kennt ihr die Krankheit ekklesianische Sichteintrübung und Liebesparadontose? Nein? Marvin kannte sie bisher auch nicht. Doch das sollte sich ändern. Zumindest erfuhr er, dass es solche Krankheiten gibt und was dagegen hilft. Nämlich Geschichten. Aber von vorne:

Marvin hat mal fast wieder verschlafen. Er hat einen Termin bei Frau Linder vom Arbeitsamt. Er hatte schon viele, und zu keinem ist er pünktlich gekommen. Er hatte auch schon viele Jobs, die alle nichts für ihn waren.

Das sollte sich heute ändern. Sie drückt ihm einen Zettel in die Hand, auf dem der Name einer Buchhandlung steht.

"Vermasseln Sie es nicht", empfahl Frau Linder zum Abschied mit einer Stimme, so samtig und weich wie ein Stahlbetonpfeiler.

Nach einem Telefonat mit Rasmus-Salomo Eichdorff war Marvin tags darauf pünktlich um 15 Uhr beim Buchladen.

Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich Marvins, als er über das Kopfsteinpflaster auf das alte Geschäft zuging. Natürlich war er aufgeregt, wie immer angesichts eines bevorstehenden Vorstellungsgespräches. Aber dieses Mal spürte er noch etwas anderes, ein ungewöhnliches, aufgeregtes Kribbeln. Es war ein bisschen so, als stünde er am Anfang einer Reise.

Und dann erlebte er auch noch ein Vorstellungsgespräch, wie er sicher noch keines hatte. Rasmus-Salomo Eichdorff plauderte mit ihm über Kindheitsabenteuer und Jugendbücher. Wann hat er das letzte Mal mit einem Erwachsenen über Astrid Lindgren gesprochen? Und er wurde sich während des Gespräches wieder bewusst, wann und warum damals seine Begeisterung für Karl May nachgelassen hat.

Nach einem Kaffee und einem weiteren Gespräch über "Der Herr der Ringe" hatte Marvin einen Arbeitsvertrag in der Tasche und soll tags darauf um 9 Uhr beginnen.

Nach einigen Tagen zeigte Eichdorff Marvin den Keller, in dem sie das Chaos beseitigen wollten, das Marvin gar nicht sehen konnte, so aufgeräumt wie alles war.

"Hier...". Der Alte winkte ihn näher und strich mit dem Finger über eine Reihe von Buchrücken. "Die ,Bekenntnisse' von Augustinus neben einer Bastelanleitung für Puppenstuben, ,Don Quichotte' eingekeilt zwischen einem Fremdwörterlexikon aus dem Jahre 1952 und dem Nibelungenlied im Urtext. Dann haben wir dort ein Buch mit einem Titel, den die Motten sich einverleibt haben, und zwei Werke, die irgendwie portugiesisch aussehen. Und hier, direkt neben Ihnen: Stevensons ,Schatzinsel' und die Memoiren von Gerhard Schröder - zwei Bücher, die ganz gewiss nicht in dieselbe Kategorie gehören." Er stemmte die Fäuste in die Hüften und knurrte: "Und Sie können das Chaos nicht sehen?"

Beim Ordnen der Bücher stieß Marvin auf eine Tür und erfuhr, dass sich dahinter eine Apotheke befindet. Eine narratorische Apotheke. Die Medizin: Geschichten für Menschen mit den verschiedensten Problemen.

Was das für Menschen sind und welche Geschichten ihnen helfen und ob vielleicht auch Marvin von ihnen profitiert, lest selbst.



 

Ann O'Loughlin: Das Café in Roscarbury Hall

Die Eltern von Ella und Roberta kamen bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater, Rechtsanwalt von Beruf, hat sein Geld in das Anwesen Roscarbury Hall gesteckt und bei Pferdewetten verloren. So hat er nicht für die Töchter vorgesorgt.

Die Schwestern versuchten alles, um Geld reinzubekommen. Schlussendlich mussten sie einen Kredit aufnehmen, den die Bank nun einfordert. Aus lauter Verzweiflung hat Ella ein kleines Café eröffnet. Ob es den Namen wirklich verdient, muss sich erst noch zeigen, denn bisher handelt es sich dabei nur um vier kleine Tische im Wohnhaus.

Eines Tages schneit die Amerikanerin Debbie herein, die sich auch gleich als Aushilfe anbietet.

In der Folge erfährt man, dass Debbie als Kind adoptiert wurde, sie jetzt Krebs hat und wohl nicht mehr lange zu leben hat und hier in Irland auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter ist. Doch ihr bleiben nur noch zwei Wochen Zeit, dann müsste sie wieder nach Amerika, ihre finanziellen Angelegenheiten klären und sich in ein Hospiz begeben.

Zwischendurch gibt es immer einen Sprung nach Amerika, ins Jahr 1968. Debbie erinnert sich hier an ihre Kindheit, an die Adoptiveltern. Debbie hat ihre Mutter sehr geliebt, obwohl diese meistens mehr als ungeduldig mit ihr war. Der Vater versuchte immer zwischen den beiden zu vermitteln. Bis die Mutter eines Tages verschwand, und Debbie mit dem Vater allein zurückließ.

Auch Ella hat mit der Vergangenheit zu kämpfen. Sie hat Mann und Tochter sehr früh verloren und es gibt immer wieder Situationen, wo sie sich erinnert. Daran, dass Ella heute so leidet, ist Schwester Roberta auch beteiligt.

Ob sich das alles für alle positiv auflöst? Wird Debbie noch erfahren, wer ihre Mutter war und werden die beiden Schwestern sich noch aussöhnen? Lest selbst.

Mir hat das Buch gut gefallen. Die Figuren sind gut ausgearbeitet, keine bleibt mir fremd. Es war schön, mich lesend wieder mal in Irland aufgehalten zu haben. Das lag sicherlich auch mit daran, dass es eine irische Autorin ist, die diese irische Geschichte geschrieben hat. Ann O'Loughlin war fast drei Jahrzehnte als Journalistin tätig und hat während der Unruhen in Irland als Sicherheitskorrespondentin gearbeitet.

19.7.19

Anna Achmatowa

Anna Andrejewna Achmatowa (eigtl. A.A. Gorenko) wurde am 23. Juni 1889 in Bolschoi Fontan bei Odessa geboren. Ihr Vater war Marineingenieur. In der Gegend von Petersburg verbrachte sie ihre Kindheit.

Sie war eine schlechte Schülerin. Allerdings schrieb sie schon mit 11 Jahren ihre ersten Gedichte. Als sie 16 war, zog die Familie nach Kiew und sie beendete dort das Gymnasium. Es folgte ein Jura-Studium an der Frauenhochschule Kiew, später in Petersburg Geschichte und Literatur.

Ihre Gedichte wurden seit 1907 von einigen Zeitungen veröffentlicht. Drei Jahre später heiratete sie Nikolaj S. Gumiljow (Gumilev), mit dem sie 1912 eine Italienreise unternahm. Die Achmatowa verbrachte 1910 und 1911 jeweils den Frühling in Paris. 1911 hat Modigliani ein Bild von ihr gemalt. Nach dem Zeugnis seiner Zeitgenossen hat ihr Ehemann ihre dichterische Begabung unterschätzt und war eifersüchtig auf ihre Erfolge. Die Ehe wurde unglücklich. Nach der Trennung erfolgte 1918 die offizielle Scheidung. Gumiljow kämpfte in der Weißen Armee. 1921 wurde er erschossen.

Anna Achmatowa zählte vor der Revolution zur Avantgarde der jungen russischen Dichtung. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Assyriologen Schiljeko verheiratet war, wurde ihr dann auch Volksfremdheit und Dekadenz vorgeworfen. Da sie in der Sowjetunion nichts mehr veröffentlichen durfte, erschienen ihre nächsten Werke in Berlin.
Sie lehnte sie eine Emigration mit ihrem 1912 geborenen Sohn ab, arbeitete in der Bibliothek eines Agronomischen Instituts und schlug sich als Übersetzerin durch. Ab Mitte der 20er Jahre widmete sie sich dem Studium der Architektur Alt-Petersburgs sowie des Lebens und Schaffens von Puschkin und schrieb darüber. Offenbar auf Fürsprache bedeutender Künstler wurden 1940 auf persönlichen Befehl Stalins ihre Werke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Der Zweite Weltkrieg brach aus. Anna Achmatowa erlebte ihn in Leningrad, wurde dann nach Moskau und später nach Taschkent evakuiert.
In den Gedichten der ersten Hälfte der 40er Jahre klangen patriotische Gefühle mit. Sie wurden damals gern gedruckt.

Nach Ende des Krieges begann erneut eine Kampagne gegen Achmatowa.
Von 1946-50 hatte Schreibverbot. Ihr Sohn, Professor für Orientalistik, wurde verhaftet und erst 1956 entlassen. Nachdem sie weiter für die Schublade schrieb, fanden sich in der Phase des "Tauwetters" immer öfter Zeitschriften zum Abdruck ihrer Verse bereit.



Der amerikanische Journalist Allan Murray Williams führte mit ihr 1961 ein Interview. Seine Kritik, dass 1958 und 1961 Gedichte von ihr in einer Auswahl herausgebracht wurden, die kein wahres Bild von ihrer Begabung vermitteln würden, wirkte sich günstig auf ihr weiteres Schicksal aus.

Anna Achmatowas Geburtstag wurde 1963 in der UdSSR gewürdigt. Sie erhielt den Ätna-Taormina-Preis 1964 und 1965 die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford. 1965 erfolgte eine umfassende Edition ihrer Dichtungen.

Nach langer Krankheit starb Anna Achmatowa am 5. März 1966 im Alter von 76Jahren in Moskau. Die Moskauer Blätter rühmten sie als überragende Künstlerin.

18.7.19

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler

Von Arturo Pérez-Reverte habe ich Der Club Dumas schon zweimal mit Begeisterung gelesen. Oder auch Der Fechtmeister, dessen Titel der Insel Taschenbuchverlag in "Ein Stich ins Herz" verwurschtelt hat.

Pérez-Reverte wurde 1951 in Cartagena, Spanien, geboren. Dort ist er einer der bekanntesten Autoren. Er fing als Journalist für die Tageszeitung El Pueblo an und berichtete für das spanische Fernsehen von den Brennpunkten der Welt. Als Schriftsteller wurde er berühmt durch die Abenteuerromane des Kapitän Alatriste und mit dem schon erwähnten Club Dumas.

Seit 2003 ist er Mitglied der Königlichen Spanischen Akademie.

Times Literary Supplement: Man kann Arturo Pérez-Revertes Bücher schwer aus der Hand legen. - Ich stimme zu.

Andrés Faulques lebt momentan in einem alten Wehrturm an der spanischen Küste, wo er ein riesiges Schlachtengemälde malt. Noch sieht er täglich die Touristenschiffe vorbeifahren und hört die Lautsprecherstimme der Reiseleiterin. Bald würde er sie nur noch wöchentlich sehen, um, "wenn die unbarmherzigen und grauen winterlichen Nordwestwinde, die sich in den Bocas de Poniente verfingen, Himmel und Meer verdüsterten", dann ganz auszubleiben.

Seit sieben Monaten lebt er nun hier, wovon er die ersten beiden brauchte, um diesen alten Wehrturm wohntauglich zu machen. Einmal in der Woche fuhr er ins Dorf, um sich Lebensmittel zu kaufen.

Eigentlich ist Faulques kein Maler; mehr als dreißig Jahre lang war er Fotograf, ein Kriegsfotograf, der an fast allen Kriegsschauplätzen dieser Welt gewesen war.

Eines Tages bekommt Faulques Besuch von einem Mann, den er im Jugoslawien-Krieg fotografiert hat und dessen Bild es auf viele Titelseiten schaffte. Ivo Markovic hat ihn viele Jahre gesucht, um den Mann kennenzulernen, der ihn berühmt gemacht hat.

Und der ihm nun auf seine Frage, was er hier wolle, eröffnet, dass er ihn töten wird. Aber nicht sofort. Erst zog er einen Bildband mit dem Titel "The Eye of War" von Faulques aus seinem Rucksack hervor. Und dann beginnt eine Unterhaltung, während der wir erfahren, welche Auswirkung es hatte, als Faulques das Bild schoss. Dem einen brachte es großen Erfolg, dem anderen zerstörte es sein Leben. "Sie sollen verstehen", hatte der Kroate gesagt. "Manche Antworten haben Sie ebenso nötig wie ich."

Das ist alles, was ich euch über dieses tolle Buch erzählen möchte. Das Gerüst habe ich euch gegeben, nun folgen lange Gespräche und Erinnerungen des Malers, über die jeder Leser für sich nachdenken kann, und zwar unbeeinflusst. Und Nachdenkenswertes gibt es vieles.

Ich habe das Gefühl, ich bin voll von dem Buch - keine Ahnung, wie ich das anders beschreiben könnte.

Wenn ich geahnt hätte, was auf mich zukommt, hätte ich versucht, mir einen Mitleser zu suchen, sodass man sich nebenbei austauschen kann. Vielleicht kann ich euch das als Tipp mitgeben.

Wäre ich vor Jahren nicht über sein Buch "Der Club Dumas" gestolpert, wäre ich wohl gar nicht auf ihn aufmerksam geworden. Was wäre mir entgangen.

Ein tolles Buch, ganz anders als die anderen, die ich von ihm schon gelesen habe. Und das ich euch hiermit ans Herz lege.

Persönliche Erinnerungen als Kriegsberichterstatter

Kurzbiografie

17.7.19

Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf

Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich das Buch gepackt. 

Die letzte Bildunterschrift lautet: „Frühjahr 1977, Wolf und Eva im Westen angekommen, aber trotz des schönen Apfels nicht im Paradies“. 

Dieses Buch besteht aus Briefen von Eva-Maria Hagen und Wolf Biermann, Tagebucheintragungen von Eva-Maria, Berichten von IMs und einigen offiziellen Dokumenten.

Sie wollten nicht weg aus der DDR, Eva-Maria und Wolf. Doch man ließ ihnen keine Wahl.


Die beiden lieben sich, sie, die DDR-Schauspielerin, und er, der politische Querulant, der die Dinge beim Namen nennt.
Ihn bürgert man 1976 aus, als er bei einem Konzert in Köln, zu dem er die Reisegenehmigung hatte, bei einer Diskussion die DDR teilweise kritisiert, an anderer Stelle aber auch wieder verteidigt. Und irgendwie hat sich die DDR da ins eigene Fleisch geschnitten. Nach der Ausbürgerung wurde das gesamte Konzert, das vorher im Dritten des WDR gezeigt wurde (was in der DDR nicht empfangen werden konnte) im ARD-Fernsehen ausgestrahlt. Und erst jetzt erfuhren viele DDR-Bürger erstmals etwas von Wolf Biermann und seinen Liedern.


Das Buch beginnt mit einem Brief von Eva-Maria Hagen aus dem Jahr 1965. Welch eine bildhafte Sprache. Verspielt, verliebt. Die Sprache ändert sich mit der Zeit. Wird sachlicher bei Problemen und wütend im Streit. Traurig und zornig nach der Ausbürgerung Biermanns. "Wolf, warum wurden Himmel und Hölle für das Jenseits erfunden, Gott und der Teufel, Paradies und Fegefeuer, wo es all das doch schon im Diesseits gibt?!"


Mit Wut habe ich die Berichte der IMs gelesen, mit Wut gelesen, wie man mit den Menschen aus Biermanns engstem Umkreis umgegangen ist. Wie man versucht hat, sie einzuschüchtern, zu drohen.


"Eva und der Wolf" erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte, das Buch erzählt auch ein Stück Zeitgeschichte der DDR.

Mehr über Eva-Maria Hagen findet Ihr auf ihrer Homepage.

15.7.19

Nicci Gerrard: Das Fenster nach innen

In diesem Buch geht es um drei Freunde: Marnie, Ralph und Oliver. Freunde seit Kindertagen. Marnie arbeitet in einem Puppenmuseum, als sie einen Telefonanruf bekam. Oliver, den sie jahre-, jahrzehntelang nicht gesehen hat, ruft an und sagt, sie muss nach Schottland kommen. Ralph liegt im Sterben und braucht jetzt die beiden Freunde. Und Marnie macht sich auf den Weg.

Und an Ralphs Sterbebett erinnert sie sich und erzählt ihm ihrer aller Geschichte. Ich erfahre, dass Ralph eine unglückliche Kindheit hatte. Sein älterer Bruder, der Charmeur, ist früh gestorben, der Vater wurde zum Alkoholiker und schlug die Frau und Ralph. Und dann war da noch die behinderte Schwester. Seit kurzer Zeit vor des Bruders Tod war Marnie dessen Freundin. Und so kam es, dass Ralph sich immer öfter bei Marnie und deren Mutter in der Pension aufhielt.

Ohne Schmalz, ohne auf die Tränendrüsen zu drücken, lässt die Autorin ihre Figuren sich zurückerinnern an eine nicht nur glückliche Kinder- und Jugendzeit. Und an die Irrungen und Wirrungen der Liebe.

Nicci Gerrard hat eine wahnsinnig tolle Art, Menschen zu beschreiben oder auch die Natur. Ach, sie hat überhaupt einen tollen Schreibstil. Ich habe mittlerweile ein anderes Buch begonnen, aber die Hauptfiguren von diesem Buch sind mir immer noch präsent. Ich glaube, ich habe noch ein Buch von ihr im Regal, und wenn nicht, werde ich mir auf jeden Fall noch Lesestoff von ihr besorgen.

13.7.19

Konstantin Michailowitsch Simonow

Simonow 1943 – als Oberstleutnant beim Kriegsverbrecherprozess von Charkow

Konstantin Michailowitsch Simonow wurde am 28. November 1915 in Petrograd geboren.
Simonow wuchs als Sohn eines Offiziers auf. Er war Metallarbeiter, Dreher und studierte 1934 bis 1938 am Gorki-Institut für Literatur in Moskau. 1939 wurde er Korrespondent in der Mongolei, dann auf wichtigen Kriegsschauplätzen.
Als das Vernichtungslager Lublin befreit wurde, schrieb Simonow einen Bericht über diese Mordstätte, der im Oktoberheft 1944 der Zeitschrift Internationale Literatur veröffentlicht wurde. Ein Bild hat ihn nicht losgelassen:

Hinter dem Lager steht eine Baracke. Sie war nicht bewohnt, und dennoch wurde sie vielleicht zum grauenhaftesten Zeugen dessen, was hier vor sich ging. Diese einige Dutzend Meter lange und breite Baracke ist in ihrer ganzen Ausdehnung und in einer Höhe von über zwei Metern angefüllt mit der Fußbekleidung jener Menschen, die hier im Laufe von drei Jahren hingerichtet worden sind. Es ist schwer zu sagen, wieviel Paar Schuhe hier liegen. Vielleicht eine Million, vielleicht mehr...
Hier gibt es alles: zerrissene russische Soldatenstiefel und polnische Militärschuhe, Männerstiefel und Damenpumps, Galoschen und - was das furchtbarste ist - Zehntausende Paar Kinderschuhe: Sandalen, Halbschuhe und Schühchen für Zehnjährige, Achtjährige, Sechsjährige und Einjährige. Man kann sich kaum etwas Grauenvolleres vorstellen als dieses Bild. Ein furchtbarer, stummer Zeuge für die Ermordung Hunderttausender von Männern, Frauen und Kindern!

Unter dem Eindruck dieses Berichts entstand von Johannes R. Becher das Gedicht "Kinderschuhe aus Lublin".

Anfangs schrieb Simonow unpolitische Lyrik, doch bekannt wurde er durch seine von Themen des Krieges bestimmten Verse. Sein erster Erfolg in Romanform war "Tage und Nächte", in dem es um die Verteidigung Stalingrads geht. Der Zweite Weltkrieg war auch in den folgenden, dichterisch nicht mehr so überzeugenden Romanen, Thema, wobei er als Vertreter der neuen kritischen Kriegsliteratur auch am "Personenkult" um Stalin Kritik übte. In den Grenzen des politisch Konformen war er zwar auf eigenes Wohlergehen bedacht, verlor aber Aufrichtigkeit und Liberalität nicht aus den Augen.

Konstantin Michailowitsch Simonow starb am 28. August 1979 in Moskau.


Kinderschuhe aus Lublin

Von all den Zeugen, die geladen,
vergess ich auch die Zeugen nicht.
Als sie in Reihn den Saal betraten,
erhob sich schweigend das Gericht.

Wir blickten auf die Kleinen nieder,
ein Zug zog paarweis durch den Saal.
Es war, als tönten Kinderlieder,
ganz leise, fern, wie ein Choral.

Es war ein langer bunter Reigen,
der durch den ganzen Saal sich schlang.
Und immer tiefer ward das Schweigen
bei diesem Gang und Kindersang.

Voran die Kleinsten von den Kleinen,
sie lernten jetzt erst richtig gehn
- auch Schuhchen können lachen, weinen -,
ward je ein solcher Zug gesehn?

Es tritt ein winzig Paar zur Seite,
um sich ein wenig auszuruhn,
und weiter zieht es in die Weite -
es war ein Zug von Kinderschuhn.

Man sieht, wie sie den Füßchen passten -
sie haben niemals weh getan,
und Händchen spielten mit den Quasten,
das Kind zog gern die Schuhchen an.

Ein Paar aus Samt, ein Paar aus Seiden,
und eines war bestickt sogar
mit Blumen, wie sie ziehn, die beiden,
sind sie ein schmuckes Hochzeitspaar.

Mit Bändchen, Schnallen und mit Spangen,
zwerghafte Wesen, federleicht -
und viel sind viel zu lang gegangen
und sind vom Regen durchgeweicht.

Man sieht die Mutter, auf den Armen
das Kind, vor einem Laden stehn:
"Die Schuhchen, die, die weichen, warmen,
ach Mutter, sind die Schuhchen schön!"

"Wie soll ich nur die Schuhchen zahlen.
Wo nehm das Geld ich dafür her...."
Es naht ein Paar von Holzsandalen,
es ist schon müd und schleppt sich schwer.

Es muss ein Strümpfchen mit sich schleifen,
das wund gescheuert ist am Knie....
Was soll der Zug? Wer kann `s begreifen?
Und diese ferne Melodie....

Auch Schuhchen können weinen, lachen....
Da fährt in einem leeren Schuh
ein Püppchen wie in einem Nachen
und winkt uns wie im Märchen zu.

Hier geht ein Paar von einem Jungen,
das hat sich schon als Schuh gefühlt,
das ist gelaufen und gesprungen
und hat auch wohl schon Ball gespielt.

Ein Stiefelchen hat sich verloren
und findet den Gefährten nicht,
vielleicht ist der am Weg erfroren -
ach, damals fiel der Schnee so dicht....

Zum Schluss ein Paar, ganz abgetragen,
das macht noch immer mit, wozu?
Als hätte es noch was zu sagen,
ein Paar zerrissener Kinderschuh.

Ihr heimatlosen, kinderlosen,
wer schickte euch? Wer zog euch aus?
Wo sind die Füßchen all, die bloßen?
Ließt ihr sie ohne Schuh zu Haus?

Der Richter kann die Frage deuten.
Er nennt der toten Kinder Zahl.
....ein Kinderchor. Ein Totenläuten.
Die Zeugen gehen durch den Saal.

Die Deutschen waren schon vertrieben,
da fand man diesen schlimmen Fund.
Wo sind die Kinder nur geblieben?
Die Schuhe tun die Wahrheit kund:

Es war ein harter dunkler Wagen.
Wir fuhren mit der Eisenbahn.
Und wie wir in dem Dunkel lagen,
so kamen wir im Dunkel an.

Es kamen aus den Ländern allen
viel Schuhchen an in einem fort,
und manche stolpern schon und fallen,
bevor sie treffen ein am Ort.

Die Mutter sagte: "Wie viel Wochen
wir hatten schon nichts Warmes mehr?
Nun werd ich uns ein Süppchen kochen."
Ein Mann mit Hund ging nebenher:

"Es wird sich schon ein Plätzchen finden",
so lachte er, "und warm ist`s auch,
hier braucht sich keiner abzuschinden...."
bis in den Himmel kroch ein Rauch.

"Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
wir heizen immer tüchtig ein.
Ich kann Lublin nur warm empfehlen,
bei uns herrscht ewiger Sonnenschein."

Und es war eine deutsche Tante,
die uns im Lager von Lublin
empfing und "Engelspüppchen" nannte,
um uns die Schuhchen auszuziehn,

und als wir fingen an zu weinen,
da sprach die Tante: "Sollt mal sehn,
gleich wird die Sonne prächtig scheinen,
und drum dürft ihr jetzt barfuss gehn....

Stellt euch mal auf und lasst euch zählen,
so, seid ihr auch hübsch unbeschuht?
Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
dafür sorgt unsere Sonnenglut....

Was, weint ihr noch? `s ist eine Schande!
Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?
Ich bin die deutsche Märchentante!
Die gute deutsche Puppenfee.

`s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!
Was fällt euch ein denn, hinzuknien.
Auf, lasst uns singen und nicht beten!
Es scheint die Sonne in Lublin!"

Es sang ein Lied die deutsche Tante.
Strafft sich den Rock und geht voraus,
und dort, wo heiß die Sonne brannte,
zählt sie uns nochmals vor dem Haus.

Zu hundert, nackt in einer Zelle,
ein letzter Kinderschrei erstickt....
Dann wurden von der Sammelstelle
die Schuhchen in das Reich geschickt.

Es schien sich das Geschäft zu lohnen,
das Todeslager von Lublin.
Gefangenenzüge, Prozessionen.
Und - eine deutsche Sonne schien....

Wenn Tote einst als Rächer schreiten
und über Deutschland hallt ihr Schritt
und weithin sich die Schatten breiten -
dann ziehen auch die Schuhchen mit.

Ein Zug von aber tausend Zwergen,
so ziehen sie dahin in Reihn,
und wo die Schergen sich verbergen,
dort treten sie unheimlich ein.

Sie schleichen sich herauf in Stiegen,
sie treten in die Zimmer leis.
Die Henker wie gefesselt liegen
und zittern vor dem Schuldbeweis.

Es wird die Sonne brennend scheinen.
Die Wahrheit tut sich allen kund.
Es ist ein großes Kinderweinen,
ein Grabgesang aus Kindermund....

Der Kindermord ist klar erwiesen.
Die Zeugen all bekunden ihn.
Und nie vergess ich unter diesen
die Kinderschuhe aus Lublin.

Johannes R. Becher

11.7.19

Patrick Swayze und Lisa Niemi: The Time of my Life: Die Geschichte meines Lebens

Patrick Swayze war einer meiner Lieblingsschauspieler. Im Gegensatz zu vielen anderen mag ich auch seine Filme vor „Dirty Dancing“. Für mich ist er ein echter Mime gewesen. Ich habe schon so viel über ihn gelesen, dass ich sehr gespannt darauf war, was er selbst über sein Leben zu berichten hat. Und nach Beendigung des Buches stimme ich seinem Satz "Ich habe mehr Leben gelebt als zehn Menschen zusammen" voll zu.

Schon während der Highschool-Zeit verletzte er sich sein Knie so schwer, dass der Traum vom Footballspielen aus war. In seinem weiteren Leben sollten aufgrund dieser Verletzung noch weitere Träume platzen.

Patrick Swayze ist ein wunderbarer Schauspieler, aber im Grunde seines Herzens war er am liebsten Tänzer:

"Ich machte zwar viele Dinge gern, aber nur Tanzen gab mir das Gefühl von vollständiger emotionaler und körperlicher Freiheit, das meinen Geist in alle Richtungen gleichzeitig aufsteigen ließ. Es ist schwer, die reine Freude und Erfüllung, die Tanzen schenken kann, in Worte zu fassen. Aber ich wusste, dass ich nie damit aufhören wollte."

Er wollte als Ballett-Tänzer an der Weltspitze stehen. Doch eines Tages entging er nur knapp einem Unfall:
"Ich hatte mir den Arsch aufgerissen, den Schmerz niedergekämpft und die Signale meines rebellierenden Körpers beständig ignoriert – aber all das hätte nicht mehr gezählt, wenn ich bei dem Unfall verletzt worden wäre."

Um nicht in tiefe Depression zu fallen, beschäftigte er sich mit verschiedenen spirituellen Strömungen, Philosophie und Buddhismus und musste dann herausfinden, welchen Traum er als nächsten leben wollte.
Er begann ein Schauspielstudium...

Ich könnte noch weiterschwärmen, doch ich möchte nicht zu viel verraten.

Patrick Swayze & Wife Dancing At World Music Awards 1994

9.7.19

Elizabeth Strout: Amy & Isabelle

Lesen mit Mira

Im Februar 2017 habe ich das Buch gemeinsam mit Mira gelesen.

Amy & Isabelle sind Mutter und Tochter. Sie leben in der Kleinstadt Shirley Falls, New England. Es ist ein drückend heißer Sommer, der von einem Skandal heimgesucht werden soll.
Isabelle, alleinerziehende Mutter, arbeitet als Sekretärin in einer Fabrik. Amy besucht die Schule, Stacy ist ihre Freundin. Mit der geht sie zum Rauchen in der Pause in den Wald. Eines Tages steht nicht mehr Miss Dayble vor der Klasse, sondern ein neuer Lehrer: Mr. Robertson. Und in den verliebt sich Amy. Als ob dies noch nicht genug wäre, wird in einer anderen Stadt ein kleines Mädchen entführt, Amy erhält zu Hause einen obszönen Anruf und ihre Freundin Stacy ist im siebten Monat schwanger.

Amy & Isabelle erleben eine schwierige Zeit. Ausgerechnet Isabelles Chef hat Amy und den Lehrer am Waldrand in einem Auto erwischt. Isabelle schneidet Amy in einem Wutanfall die schönen, lockigen blonden Haare ab und besucht den Lehrer, um ihn aufzufordern, die Stadt zu verlassen. Amy wartet vergebens auf einen Anruf von ihm und hat keinen guten Gedanken mehr für ihre Mutter.
Nicht nur können sie sich zu Hause kaum aus dem Weg gehen, nein, in diesem Sommer arbeitet Amy nun auch noch im Großraumbüro, wo ihre Mutter als Sekretärin arbeitet. Und dem Chef, der sie erwischt hatte, läuft sie so auch immer über den Weg.

So weit die Geschichte, wie ich sie Dir verrate, ohne zu viel zu sagen. Denn zu lesen, wie sie sich weiterentwickelt, macht einfach nur Spaß. Obwohl es schon ernste Themen sind, die die Frauen zu bewältigen haben. Ja, es ist ein Frauenbuch, ein Buch über Frauen, für Frauen - aber keines in der Art wie die sogenannten "Lit Chicks".
Elizabeth Strout schreibt einfach toll. Sie bleibt in ihrer Geschichte nicht an der Oberfläche. Sie zeigt nicht nur das Schöne, Glänzende, das man zumeist nach außen transportieren möchte. Nein, es werden ganz menschliche, auch eklige Dinge angesprochen - wo man am liebsten sagen möchte: Oh nein, so genau möchte ich das gar nicht wissen.
Alle Frauen haben ihre Probleme, sind sympathisch oder weniger sympathisch - aber sie entwickeln sich in der Geschichte - und das zu lesen, lege ich Dir ans Herz. Für mich war es definitiv nicht mein letztes Buch von Elizabeth Strout.

Und hier der Link zu Miras Buchbesprechung.

7.7.19

Henrik B. Nilsson: Das Manuskript des Hermann Freytag

Ein Buch über Bücher der etwas anderen Art. Bisher ging es in Büchern meines Lieblingsgenres immer um Bücher, Schriftsteller, Buchverkäufer, Bibliothekare; Henrik B. Nilsson nun hat in seinem im btb Verlag erschienenen Erstling einen Lektoren aufs Korn genommen.

Hermann Freytag ist pensionierter Verlagslektor. Seine Frau ist auf Reisen oder hat ihn wohl eher verlassen. Seit Tagen bekommt er immer wieder eine Nachricht von seinem ehemaligen Verleger Schlink: Melden Sie sich umgehend im Verlag. Von dem Erfolgsautoren Boris Barsch soll demnächst ein neues Buch erscheinen, doch er will nur mit Freytag arbeiten. Dem ist es nämlich in all den Jahren stets gelungen, nicht nur seine Fehler auszumerzen, sondern auch die quasi unfertigen Manuskripte in Form zu bringen. Ja eigentlich war es Freytag, dem Barsch seinen Erfolg verdankte.

Freytag nimmt diesen Auftrag nur widerwillig an. Die Zusammenarbeit mit Barsch war immer anstrengend. Er benahm sich wie ein Schäferhundwelpe oder ein verwöhntes kleines Kind. Laufend brauchte er Zuspruch und Betreuung.

Noch dazu war der Beruf des Lektoren ein undankbarer: Während der Verleger in gehobenen Kreisen verkehrte und den Autoren als Freund bezeichnete, lebte der Lektor im Schatten. Auf ihn wurde man nur aufmerksam, wenn er einen Fehler machte.

Dabei hatte Freytag eigene Pläne. Schon seit seiner Kindheit träumte er davon, einen Roman zu schreiben. Schon mit zehn hatte er die großen Meister gelesen, die er in den Bücherregalen seiner Mutter fand. Er liebte Bücher, als wären sie seine Freunde. Was lag da näher, sich einen Beruf zu suchen, in dem er diese Liebe ausleben konnte. Doch weit gefehlt: Er hatte die Fähigkeit verloren, mit unschuldigen Augen zu lesen, sich dabei ganz verschlingen zu lassen. Der einzige, der ihn noch berührte, war Goethe. Und manchmal Barsch, obgleich der wahrlich kein Goethe war.

Im Café Sperl hatte er sich eine Art Büro eingerichtet. Hier schrieb er seine Ideen in ein Notizheft.

Eines Tages lernt Freytag einen gewissen Herrn Signori kennen. Dieser lädt Freytag in sein Haus ein und bittet ihn, das unfertige Manuskript lesen zu dürfen. Als er es zurückgibt, meint er, es enthält politischen Sprengstoff und er bittet Freytag, die Herausgabe des Buches zu verzögern.

Was mag es mit diesem Sprengstoff auf sich haben? Mit Freytag befinden wir uns im Wien des Jahres 1910. Es gibt aber zwischendurch immer wieder kurze Kapitel, die ins Jahr 1903 führen. Von einer Papstwahl ist dort die Rede. Ob das miteinander zusammenhängt?

Mir hat das Buch Spaß gemacht. Ich arbeite ja als Korrekturleserin, da war es toll, in einem Buch mal als Hauptfigur auf einen Lektor zu stoßen. Auch der Gang durch das Wien 1910 gefiel mir ausnehmend gut.

5.7.19

Sr. Lea Ackermann / Reiner Engelmann: Solidarität mit Frauen in Not

Das Buch wurde herausgegeben von der Organisation SOLWODI e.V. und Reiner Engelmann:

"Weltweit leben immer mehr Frauen in Armut. Bedingt durch traditionelles Rollenverständnis verfügen sie über keine oder nur minimale schulische und/oder berufliche Ausbildung und erwirtschaften ein niedrigeres Einkommen als Männer. Häufig tragen sie aber überwiegend allein die Verantwortung für ihre Familien, weil viele Männer auf der Suche nach einer bezahlten Anstellung die Familie verlassen und in die Städte migrieren.
Ihre einzige Chance, der Verelendung zu entgehen und genug Geld zu verdienen, um ihre Familie zu ernähren, sehen viele Frauen in folgenden Auswegen: der Heirat mit einem „reichen“ Ausländer, einer Arbeit im Ausland oder in der Prostitution.
So geraten sie in die Hände von Menschenhändlern, Schleppern oder kriminellen Heiratsvermittlern. Diese Frauen werden dann oft an Bordellbesitzer verkauft und mit brutaler Gewalt zur Prostitution gezwungen, oder sie geraten in die Abhängigkeit von Ehemännern, die sie körperlich und seelisch ausbeuten.
Die Hilfe von SOLWODI richtet sich an betroffene Frauen in den Bereichen Sextourismus, Heiratshandel und Menschenhandel."

Diese Organisation wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Augsburger Friedenspreis 2014. Gefördert wird sie von unterschiedlichen Ministerien, Firmen, anderen Organisationen und privaten Spendern. Prominente Unterstützer sind unter anderen Alice Schwarzer, Heiner Geißler (am 11. September 2017 gestorben), Steffi Jones und der Liedermacher Georg Ringsgwandl.

Doris Ahnen schrieb als Ministerin für Bildung, Frauen und Jugend in Rheinland-Pfalz in einem Geleitwort:

"Ich empfehle dieses Lesebuch der Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, weil es nicht nur die Schicksale von Menschenhandelsopfern eindringlich beschreibt, sondern auch aufzeigt, mit welcher Kraft Frauen und Kinder mit der entsprechenden Hilfe von Organisationen wie SOLWODI einen Neubeginn zu einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben auch im Herkunftsland gestalten können."

Im 1. Artikel, Absatz 1 unseres Grundgesetzes heißt es:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." 

Für die Abschaffung des Sklavenhandels haben Menschen gekämpft und ihr Leben gelassen. Heute, im angeblich so aufgeklärten Westen, wird moderner Sklavenhandel betrieben, nur, damit hauptsächlich Männer ihren sexuellen Neigungen frönen können. Und da wird auch vor Kindern nicht halt gemacht.

Und wir alle wissen darüber Bescheid. Niemand kann sagen, er hätte nichts gewusst. Ganz im Gegenteil, wir scheinen uns daran zu gewöhnen.

Dieses Buch soll uns informieren und uns motivieren, darüber nachzudenken und uns zum Handeln anzuregen. Es darf nicht reichen, zu sagen: „Ach, wie schrecklich!“

Zum Abschluss möchte ich noch einige Zeilen von Petra Kirschstein aufführen:

"Überall auf der Welt

Gefesselt…
mit den unsichtbaren Bändern der Verantwortung
für Kinder und Familie.

Gefangen…
im Labyrinth der Pflichten und gesellschaftlichen Normen.

Umzingelt…
von Menschen, die ihre Macht missbrauchen,
nur auf ihren Vorteil bedacht.

Ungehört…
ihr stiller Schrei nach Freiheit.

Ungesehen…
die Spuren der Wut und der Tränen in ihrem Gesicht.

Unbeachtet…
ihr verzweifelter Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit.

Belächelt…
die Versuche, ihren eigenen Weg zu gehen.

Nicht ernst genommen…
die gelebte Solidarität mit Leidensgenossinnen.

Unterschätzt…
die Kraft einer Frau."

3.7.19

Eliza Orzeszkowa

Eliza Orzeszkowa wurde am 6. Juni 1841 in Milkowszczyzna b. Grodno (Polen) geboren.
Sie war die Tochter des adligen Gutsbesitzers Pawlowski. Erzogen wurde sie zu Hause, von 1852-57 dann in einem Warschauer Klosterinternat. 1858 heiratete sie den Gutsbesitzer Piotr Orzeszko, der infolge des Aufstandes von 1863 nach Sibirien verbannt wurde. Mit ihm lebte sie auf einem Landgut in Polesien. Die Ehe endet unglücklich und wird 1869 geschieden; Eliza lebt dann sehr gesellig auf Gut Ludwinow und gründete eine Dorfschule. Von 1879-1882 arbeitete sie für einen Verlag in Wilna. 1894 heiratete sie ein zweites Mal, doch der Mann starb kurz darauf, sie selbst wurde herzkrank.
Am 18. Mai 1910 starb Eliza Orzeszkowa in Grodno.

Ab 1864 führte sie naturwissenschaftliche Studien durch. Nach der Scheidung ging es in ihren Romanen um die Unterdrückung intellektueller Frauen durch verständnislose Männer.
Henry Thomas Buckle, Herbert Spencer und John Stuart Mill beeinflussten Eliza Orzeszkowas Überzeugung von der „Nützlichkeit“ der Literatur. Diese erläuterte sie 1866 in dem Artikel „Kilka uwag nad Powie´scia“ (Einige Bemerkungen über den Roman) und 1873 in den „Listy o literaturze“ (Briefe über Literatur).
Sie schrieb gegen feudale Anachronismen, die Unfreiheit der Frauen und die Diskriminierung ganzer sozialer Gruppen. Und sie schrieb den ersten Frauenroman der polnischen Literatur: „Marta“ (1873).
Allgemeine Anerkennung bekam sie dann aber erst 1874 mit „Eli Makower“, einer Erzählung, die in die Tiefen der polnisch-jüdischen Beziehungen dringt und auch künstlerisch gelungen ist.
Bisher prägten ihre Bücher die Hoffnung auf Erneuerung durch die bürgerliche Intelligenz. Später änderte sich das in Skepsis gegenüber der industriellen Entwicklung bis zur Hinwendung zu national-geschichtlichen Themen.
Ihr „Brief an die deutschen Frauen“ von 1900 gilt als Meilenstein der polnischen Frauengeschichte.
Ihr Werk ist vom Gedanken tiefster Humanität durchdrungen.

Zwei ihrer Romane - Der Australier und Die Hexe - kann man auf Gutenberg lesen.



Marta
Mit dem kleinen Roman „Marta“ gelang der polnischen Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa (1841–1910) vor über hundert Jahren der Durchbruch zu weltweiter literarischer Anerkennung. Die Geschichte der Marta Swicka, die, aus „gutem Hause“ stammend, in der Wärme wohlbehüteter Verhältnisse aufgewachsen, sich plötzlich gezwungen sieht, für sich und ihr Kind einen ermüdenden Kampf um die nackte Existenz zu führen, nahm die Autorin zum Anlass, den Finger auf die unhaltbare Rechtlosigkeit der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zu legen. Mit dem unbestechlichen Blick des Realisten, mit dem sie sich in ihren späteren Werken, wie der „Hexe“ (1885) oder dem „Njemenfischer“ (1888), liebevoll auch der Gestalten des einfachen Volkes annimmt, unterzieht sie die vom Mann bestimmten Konventionen, Klischees und Denkgewohnheiten einer spöttischen Kritik und mißt diese an den hohen Idealen des bürgerlichen Humanismus. Die damals knapp dreißigjährige Schriftstellerin, die heute neben Boleslaw Prus und Henryk Sienkiewicz zu den Begründern des Realismus in der polnischen Prosa zählt, konnte sich dabei auf eigene bittere Erfahrungen berufen, die sie sammeln musste, ehe sie in ihrer Heimat als bedeutendste Autorin des 19. Jahrhunderts gefeiert wurde.
Verlag der Nation 1990



Die Hochwohlgeborenen
In den „Hochwohlgeborenen“ erzählt die polnische Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa (1841-1910) eine einfache Geschichte aus dem Volksleben ihrer Heimat – die verschmähte Liebe eines hochbegabten Bauernsohnes zu einem adligen Mädchen. Salusia, eine der liebreizendsten Gestalten der polnischen Literatur, folgt zunächst der Stimme ihres Herzens und wendet sich empört gegen ihre Familie, die sie mit einem reichen Jüngelchen verheiraten will. Wie ein unheildrohendes Verhängnis rückt die Standesheirat näher. Schwankend zwischen dem verlockenden Besitz der Güter, auf denen sie ein sorgenfreies Leben als „Herrin“ führen könnte, und einer Ehe, die ihre Sehnsucht nach Wärme, gegenseitiger Achtung und Liebe stillen würde, verzögert Salusia ihre Entscheidung – bis es zu spät ist. Jerzy aber, dem Salusias Herz bis zuletzt gehört, verkörpert jene Söhne der ehemaligen Leibeigenen, die sich im Bewußtsein ihrer Tüchtigkeit, ihres Bildungsdranges und ihres wachsenden Einflusses vom Dünkel der „Hochwohlgeborenen“ nicht mehr imponieren lassen. Von diesen jungen Intellektuellen und von der Masse der einfachen, urwüchsig gesunden, mißachteten Bauern – nicht aber von den Schlachtschitzen erwartet die Autorin die Wiedergeburt ihrer Nation.

Verlag der Nation 1978

1.7.19

Arturo Pérez-Reverte: Der Fechtmeister / Ein Stich ins Herz

Eine schöne Geschichte - Minuspunkt an den Verlag

Vorab muss ich meinem Ärger Luft machen. Dieses Buch erschien 1988 als Der Fechtmeister. Der Titel passt meiner Meinung nach auch zum Originaltitel El maestro de esgrima.
Und dann kommt der Insel Verlag daher und legt es als Ein Stich ins Herz wieder auf. Das klingt nach Herz-Schmerz und scheint sich wohl besser zu verkaufen. Wie ich das hasse.

Aber Arturo Pérez-Reverte kann nichts dafür. Der Verlag sorgt damit nur dafür, dass ich beim Büchershoppen jetzt vorsichtiger bin.

Von Arturo Pérez-Reverte habe ich mit Begeisterung Der Club Dumas (als Die neun Pforten mit Johnny Depp verfilmt) gelesen.

Mit Ein Stich ins Herz lass ich mich ins Jahr 1868 nach Madrid entführen. Ich lerne Jaime Astarloa, den besten Fechtmeister von Madrid, kennen, der Besuch von einer jungen Frau, Adela de Otero bekommt. Sie möchte "den Stoß der zweihundert Escudos" von ihm lernen.
Don Jaime fällt aus allen Wolken. Fechten ist doch nichts für eine Frau. Diese Maxime vertritt er aus tiefstem Herzen:

Gleich würde sie ihm mit weiblicher Überredungskunst zu Leibe rücken, an Gefühle appellieren oder ihn, Gott bewahre, anflehen. Für ihn kam eine Frau als Fechtschülerin nicht in Frage. Er war entschlossen, auch diesmal abzulehnen, zumal es sich nur um die Laune einer verwöhnten Dame handeln konnte. Die Frage, die sie ihm dann stellte, traf ihn vollkommen unerwartet...

Und so kommt es, dass Don Jaime sie als Schülerin aufnimmt, und nicht nur das. Er beginnt, Gefühle für Adela de Otero zu entwickeln. Er schimpft sich einen Narr, wo er doch wesentlich älter ist. Aber er kommt nicht dagegen an.

Eines Tages bat der Marqués de los Alumbres den Fechtmeister, ihn mit der jungen Frau bekannt zu machen. Und dieser verlor damit seine Schülerin.
Als er sie später auf der Straße sah, bemerkte er Angst in ihren Augen.

Don Jaime muss zu seinem Entsetzen mit ansehen, dass die Kunst des Fechtens immer mehr mit Füßen getreten wird. Sie verkommt so langsam zum Sport. Den meisten geht es nur noch um die Technik, nicht mehr um die Kunst.

Mit Quart- und Terzgruß erweisen wir den Sekundanten und Zeugen unseren Respekt. Halten wir uns immer vor Augen, daß Gefechte dieser Art für gewöhnlich zwischen Leuten aus gutem Hause ausgetragen werden. Grundsätzlich ist wohl nichts dagegen einzuwenden, daß zwei Männer sich gegenseitig töten wollen, wenn die Ehre sie dazu treibt. Aber daß sie dies so ritterlich wie möglich tun, ist bei Gott das Mindeste, was wir von ihnen verlangen können.

Und während Don Jaimes Gedanken um die junge Frau kreisen und er jungen Adeligen das Fechten beibringt, gibt es Unruhen im Land, bis die Regierung den Kriegszustand ausruft.

Zwischenzeitlich verliere ich Adela de Otero aus dem Blick. Politik ist das vorherrschende Thema am Stammtisch. Und Don Jaime hat mittlerweile die Nase voll von den Diskussionen, die zu nichts führen:

Von ihm aus hätten sie sich alle miteinander aufhängen können, diese verdammten Republikaner und Monarchisten mit ihrem patriotischen Gewäsch und ihrer kindischen Kaffeehauszänkerei. Jeden Tag eine neue Aufregung, ein neuer Tumult, ein neuer Zwist, mit dem sie ihm das Leben schwer machten. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen. Er wollte seine Ruhe haben, nichts weiter.

Und die junge Frau geht ihm weiterhin nicht aus dem Kopf. Sie hat ihm den Frieden geraubt.
Doch dann geschieht etwas Entsetzliches und Don Jaime weiß nicht mehr, was er denken soll.

Doch lest selbst.