30.10.19

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren

Astrid Lindgren konnte schon schreiben, als sie noch gar nicht so richtig damit begonnen hat. Das hat sie mit ihren Kriegstagebüchern bewiesen.
Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben, schreibt sie in ihrem ersten von siebzehn in Leder eingebundenen Tagebüchern. Astrid Lindgren war 32, verheiratet, Mutter zweier Kinder und hatte erst einige Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht.
Persönlich bekamen sie nicht viel vom Krieg mit Ja, es gab Lebensmittelrationierungen, manchmal war der öffentliche Verkehr lahmgelegt, der Ehemann hatte militärischen Bereitschaftsdienst und die Preise stiegen.
Und doch war jeder Tag geprägt von Angst, Angst, dass der Krieg auch zu ihnen kommen könnte.

Warum sie diese Tagebücher begann, geht nicht aus ihnen hervor. Später sagte Astrid Lindgren mal in einem Interview, dass sie zu dieser Zeit das erste Mal eine politische Überzeugung hatte. Die ganze Familie diskutierte mit, selbst den Kindern las sie aus den Tagebüchern vor.
Durch ihre Arbeit in der Abteilung für Postzensur im Stockholmer Zentralpostamt erfuhr sie, welche Auswirkungen der Krieg auf die Menschen hatte. Einige der Briefe, die sie während dieser Tätigkeit lesen musste, schrieb sie ab (obwohl das streng verboten war) und fügte sie den Tagebüchern hinzu.

Schweden war, wie einige wenige andere Länder auch, neutral. Doch an den Grenzen gab es schon brenzlige Situationen. Besonders auf dem Meer, wo ein schwedisches U-Boot versank. Über diese Neutralität lässt sich wahrscheinlich diskutieren. Schweden verdiente am Krieg, ja auch die Familie Lindgren hat daran verdient.
Aber Schweden konnte dadurch anderen Ländern mit seinen Ressourcen helfen. Und Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben – aus Mangel an Friedensvermittlern.

Immer wieder blitzt auch die Angst vor den Russen durch. Astrid Lindgren verriet, lieber mit den Deutschen zu paktieren, als sich den Sowjets auszuliefern.
Sie verstand auch die deutschen Menschen nicht Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen.

Ich empfand das Lesen dieser Tagebücher als sehr interessant. Bisher habe ich ja meist Bücher gelesen, in denen einzelne Opfer berichten, aber so einen allumfassenden Überblick über diese Jahre – den habe ich nun in diesem Buch erfahren.

9.10.19

Eugenie Marlitt

Eugenie Marlitt (eig. Eugenie John) wuchs als Tochter einer verarmten Kaufmannsfamilie auf. Durch die Unterstützung der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen konnte sie die Schule besuchen und von 1844 – 46 ein Gesangsstudium am Wiener Konservatorium aufnehmen. Wegen eines Gehörleidens musste sie die gewünschte Berufslaufbahn beenden und wurde Gesellschafterin der Fürstin.
Sie lebte seit 1863 in ihrer Heimatstadt als freie Schriftstellerin.

Eugenie Marlitt schrieb Unterhaltungsromane. Bevor diese jedoch als Buch erschienen, wurden sie als Fortsetzungen in der „Gartenlaube“ gedruckt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ihre Familiengeschichten spielen im großbürgerlichen und aristokratischen Milieu und laufen nach einem bestimmten Muster ab. Sie stellt soziale Idyllen dar, in denen ihre Frauengestalten gegen Ungerechtigkeit, Standes- und Besitzunterschiede anzukämpfen haben. Die Geschichten enden mit einer reichen Heirat.

Von den „Leuten aus dem Volk“ wurde jede neue Ausgabe der „Gartenlaube“ mit Spannung erwartet. Die Fortsetzung des Romans „Goldelse“ trieb die Auflage von 100.000 auf 375.000. Über den Ruhm, der sich mit jeder Ausgabe steigerte, war Eugenie Marlitt sehr verwundert. Und der Erfolg blieb ihr bis zum Lebensende treu.

Aber die Literaturkritik disqualifizierte sie umso offener als anspruchslose Unterhaltungsschriftstellerin. Heinrich Clauren (1771 – 1854) warf ihr Rührseligkeit und Literaturkitsch vor.

Doch Gottfried Keller nahm Eugenie Marlitt vor den Angriffen in Schutz: „Ich habe das Frauenzimmer bewundert!“

4.10.19

Erna Lauenburger (Unku)

Erna Lauenburger ist vielen Menschen sicherlich unbekannt. Aufhorchen werden sie wohl eher beim Namen Unku.

Das Büchlein Ede und Unku  von Alex Wedding endete vor der Nazizeit. Im Mai 1933 wurde es von den Faschisten verbrannt und es gehörte damit zu den verbotenen Büchern.

Janko Lauenberger, Ur-Cousin von Unku, hat die Geschichte der Familie weitererzählt. Ein gutes Fazit kann er zum Schluss des Buches leider nicht ziehen. Der Rassismus scheint heute "in Wellen über unser Land zu schwappen". In den 90er Jahren hat er das nicht so schlimm empfunden. Wer ihn da nach seiner Herkunft fragte, tat das aus Interesse. Heute erntet er oftmals "unfreundliche und bohrende" Blicke.

Bei Ede und Unku ging es weniger um Unkus Familie als vielmehr um den Klassenkampf der Arbeiter. Ansonsten, davon ist Janko Lauenberger überzeugt, wäre es nie in den Schulplan mit aufgenommen worden. So haben es seit den 50er Jahren Millionen Schüler gelesen.

Nach mehr als dreißig Jahren erst erfuhr die Familie, dass es über sie ein Buch gibt. Und während es dort ein gutes Ende nimmt, war dies für Unku keinesfalls so. Sie, ihre beiden Töchter und ihre Mutter starben in Auschwitz. Nur der Vater überlebte. Das einzige was ihm von Unku blieb, sind die Bilder aus dem Büchlein.

Dieses nun vorliegende Buch hat Janko Lauenberger geschrieben, weil er, nun selbst Vater geworden, nicht will, dass seine Kinder denselben Vorurteilen gegenüberstehen. Vorurteile, die bis heute bestehen. Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2014 stoßen die Sinti und Roma auf mehr Ablehnung, als jede andere Gruppe. "20 Prozent der Befragten würden uns nicht einmal zum Nachbarn haben wollen. Wenn ich so etwas höre, muss ich schon aus Verzweiflung etwas tun." - Wer sind wir, dass wir uns so dermaßen über andere Menschen erheben.

Mit zwölf Jahren, als sich Unku taufen lässt, erfährt sie schon eine Spur von Rassismus von ihrer Patin Frieda Zeller-Plinzner. Zu dieser Zeit ist Grete Weiskopfs Buch schon verboten und sie selbst mit ihrem Mann im Exil.

Im Juli 1936, zwei Wochen vor den Olympischen Spielen, werden die Berliner Wagenplätze geräumt. Angeblich wegen der Hygiene. Nun stehen sie zwischen den Rieselfeldern der Berliner, direkt an den Bahnschienen. Dort gibt es für alle nur zwei Toilettenanlagen und regelmäßig kommen LKWs mit Jauche, die hier entsorgt wird. Im August 1938, Unku ist mittlerweile mit Mucki verheiratet, bringt sie ihr erstes Kind zur Welt, eine Tochter. Mucki, gefangen in Buchenwald, erfährt erst einen Monat später, dass er Vater geworden ist und er wird seine Tochter nie im Arm halten.

1. September 1939 - der Zweite Weltkrieg hat begonnen. Unku, die mittlerweile mit ihrer Gruppe in Magdeburg lebt, muss ein Papier unterschreiben. Kein Sinto, kein Rom darf Magdeburg verlassen. Sie dürfen nicht mehr reisen. Ihr wird übel.

Unku wird Zwangsarbeiterin in der Sack- und Planfabrik "Curt Röhrich". Die Firma stellt auch "Zelte für General Erwin Rommels Afrikafeldzug her, dessen Truppen in der libyschen Wüste gerade gegen die Briten kämpfen. Und in ihrem anderen Betrieb in der Hennigestraße Uniformen". 1941 geschieht etwas, dass Unkus Geheimnis bleiben soll, neun Monate später bringt sie ihre zweite Tochter Bärbel zur Welt. Mucki stirbt, ohne dass er seine Familie noch einmal gesehen hat, an den medizinischen Versuchen, die ihm in Buchenwald angetan wurden.

Am 1. März 1943 werden Unku, ihre Töchter und alle anderen ihrer Gruppe mitten in der Nacht abgeholt und in geschlossene Güterwagen verfrachtet.

Ich hoffe, ich konnte euch ein wenig neugierig machen auf Unkus wahre Geschichte. Und auch auf den Autor Janko Lauenberger, der hier auch aus seiner Kindheit erzählt, die er in der DDR zubrachte.

2.10.19

J. R. Moehringer: Tender Bar

Lesen mit Mira


 So verschieden sind unsere Kindheitserinnerungen gar nicht, wenn ich mich jetzt mal mit J. R. vergleiche. Der einzige Vorteil, den ich hatte, war, dass wir abgesichert waren. Meine Eltern brauchten sich wegen des Jobs oder der Wohnung keine Sorgen machen.

Aber gefühlsmäßig kann ich J. R. vollauf verstehen.

Das wahre Genie von J. R.s Vater lag im Verschwinden. Früh ließ er die Familie im Stich. Doch J. R. konnte ihn im Kofferradio hören. Als seine Mutter das mitbekam, sorgte sie dafür, dass sich Vater und Sohn mal trafen. Und J. R. schämte sich, dass er sich auf den Vater so freute. Doch aus dem Besuch des angekündigten Baseballspieles wurde nichts. Der Junge wartete vergeblich.

Und so macht sich J. R. auf, männliche Vorbilder zu suchen. Er versucht, sich mit dem Opa anzufreunden. Doch er hat Gewissensbisse; was würde die Mutter sagen. Und er fragt nach, warum sie nicht mit dem Opa redet:

"Opa gebe keine Liebe weiter, sagte meine Mutter, als hätte er Angst, sie könnte eines Tages knapp werden."

Opa verbat ihr auch, ein College zu besuchen. Sie wollte so gerne studieren und Karriere machen.

Etwas später, kurz vor seinem achten Geburtstag, kam es dann doch noch zu einem Treffen zwischen Vater und Sohn, aber darüber hat J. R. seiner Mutter nicht die Wahrheit erzählt. Und dann war er ganz verschwunden. Er floh aus dem Bundesstaat, weil J. R.s Mutter Unterhaltszahlungen einklagen wollte. Und er drohte ihr, den Sohn zu entführen und ihr einen Killer auf den Hals zu hetzen, wenn sie damit nicht aufhörte.

Doch das und auch, was seine Mutter an ehelicher Gewalt erlebte, erfuhr J. R. erst in den folgenden Jahren.

Auf dem Klappentext steht unter dem 1. von drei Punkten der Grund, warum es für Frauen gut ist, das Buch zu lesen: "Weil Männer viel einfühlsamer und liebenswürdiger sind, als man denkt."

Diese einfühlsamen und liebenswürdigen Männer fehlen mir bisher. Der Opa ist der Familie gegenüber ein Ekel:

"Gegenüber seinen Kindern verhielt Opa sich kalt und seine Enkel ließ er meist abblitzen, aber zu Oma war er hässlich. Er setzte sie herab, schikanierte sie, quälte sie zum Spaß, und seine Grausamkeit gipfelte in dem Namen, den er ihr gab. Ich hörte ihn nie Margaret zu ihr sagen. Er nannte sie dumme Frau, was sich ein wenig wie die Pervertierung bestimmter indianischer Namen in Hiawatha anhörte - zum Beispiel Großer Bär oder Lachendes Wasser ... Jeder Tag der Erniedrigung und Scham war Oma anzusehen. Selbst wenn sie schwieg, sprach ihr Gesicht Bände."

Dabei hielt er ihr Haushaltsgeld so kurz, dass sie sich nicht mal etwas für ein neues Kleid beiseitelegen konnte.

Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen im Haus, ging J. R. in den Keller und entdeckte dort einen Schatz:

"In Schachteln verstaut, auf Tischen gestapelt, in Koffer und Überseekisten gepackt waren Aberhunderte Romane und Biografien, Lehrbücher und Kunstbände, Memoiren und Ratgeber, alle zurückgelassen von verschiedenen Generationen und abgekappten Familienzweigen. Ich weiß noch, wie mir der Atem stockte.

Ich liebte diese Bücher auf der Stelle, und diese Liebe hatte meine Mutter in die Wege geleitet. Von meinem neunten Lebensmonat an bis ich zur Schule kam, hatte mich meine Mutter kontinuierlich das Lesen gelehrt und dazu hübsche Lernkarten verwendet, die sie bestellte. Mir blieben diese Karten stets klar und lebendig in Erinnerung wie Schlagzeilen, die hellroten Buchstaben auf cremefarbenem Grund, und dahinter das Gesicht meiner Mutter mit denselben hübschen Farben, dem hellen rosigen Teint, umgeben von rotbraunem Haar. Mir gefiel, wie die Wörter aussahen, ihre Form, die unterschwellige Verbindung der Schrift mit dem hübschen Gesicht meiner Mutter, aber vielleicht lag es auch nur an der Funktionalität, die mich für sie einnahm. Wörter vermochten meine Welt zu organisieren, brachten Ordnung ins Chaos, trennten Dinge säuberlich in Schwarz und Weiß..."

Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" und "Minuten-Biografien, "ein bröckelnder alter Band aus den 1930ern", wurden seine ständigen Begleiter.

Berührend finde ich immer J. R.s Wunsch, nur das Beste für seine Mutter zu wollen. Er durfte nicht einfach nur sein Bestes geben, er musste perfekt sein. Er möchte studieren, um Anwalt zu werden und seinen Vater zu verklagen. Dann bräuchte sie nachts nicht immer auf dem Taschenrechner rumhacken. Denn wenn das losging, hieß es, dass man bald wieder bei Opa einziehen musste, weil das Geld nicht mehr reichte.

Selbst als eine Beziehung seiner Mutter mit einem Mann in die Brüche ging, machte er selbst sich Vorwürfe. Er hätte sich mit diesem Mann mehr Mühe geben müssen, hätte sich mit ihm verstehen müssen. Er hätte ihn dazu bringen müssen, ihn zu mögen.

Um den Glücksfall, der J. R. dann ereilt, beneide ich ihn. Er findet nach der Schule Arbeit in einem Buchladen. Bud und Bill führen ihn nicht nur in die Welt der Bücher ein:

"Bill und Bud kamen schnell dahinter, dass ich Bücher liebte, aber nicht sehr viel über sie wusste. Mittels einer Reihe rascher, bohrender Fragen fanden sie heraus, dass ich nur ,Das Dschungelbuch' und die ,Minuten-Biografien' kannte. Sie waren entsetzt und wütend auf meine Lehrer."

Doch sie lehrten ihn auch Musik, widmeten sich seiner Sprechweise und zeigten ihm, sich ansprechender zu kleiden. Und sie bestärkten ihn in seinem Wunsch zu studieren.

Sommer 1980:

"Zwei Schüsse aus kürzester Entfernung in die Brust, dann rannte der gesichtslose Täter davon. Meine Mutter und ich sahen das Ganze zusammen mit Millionen anderer Zuschauer. Der versuchte Mord an J. R. Ewing war das Ende der Staffel, der Cliffhanger von ,Dallas', der am häufigsten gesehenen Fernsehserie der Welt, und als J. R. Ewing zu Boden sank, die Hand auf der Wunde", wusste J. R. Moehringer, dass ihm ein langer heißer Sommer bevorstand.

Auch das habe ich mit J. R. gemeinsam. Die Erinnerung an Dallas. Aber da ich nicht J. R. heiße, blieben mir die folgenden Frotzeleien erspart.

Ich könnte noch so viel über das Buch berichten, aber ich möchte euch nicht das Vergnügen nehmen, dieses tolle Buch selbst zu lesen.

Sogar die Danksagung habe ich mit Vergnügen gelesen, was äußerst selten vorkommt, da ich die meisten aufgezählten Namen eh nicht kenne. Diese aber ist richtig toll, und das nicht nur, weil mir hier ein bekannter Name (Will Schwalbe) untergekommen ist.

Miras Buchbesprechung

Christo Smirnenski - bulgarischer Schriftsteller und Dichter

Christo Smirnenski wurde am 29. September 1898 in Kilkis (Griechenland) geboren. Er ist nur 25 Jahre jung geworden.

Er hatte eine glückliche Kindheit und war ein verspieltes Kind mit einem großen Sinn für Humor. Bis 1911 besuchte er die Schule in Sofia. Als er vierzehn war, musste er während des Zweiten Balkankrieges 1913 mit seiner Familie nach Sofia fliehen.
1913-1917 besuchte er die Technische Schule, dann bis 1918 die Militärschule.

Er verfasste unter anderem Lieder, Tiergeschichten und Witze in Reimform. Sein literarisches Debüt gab er 1915 in einem Satiremagazin. Ab 1918-1922 schrieb er auch für die kommunistische Presse Bulgariens (Der Vorzeigebulgare) und 1919-1923 in Rotes Gelächter.
Er war 1922/23 Mitherausgeber der Maskerade.

Christo Smirnenski schrieb sozialkritische und auch humoristische Lyrik und Prosa und revolutionäre Lyrik.

Bis zu seinem frühen Tode mit 25 Jahren, er starb an Tuberkulose, schrieb der rastlose Dichter unter bis zu 70 Pseudonymen mehrere Tausend Gedichte und andere Werke.

Nach ihm ist seit 2008 der Smirnenski Point benannt, eine Landspitze von Robert Island in der Antarktis.

Christo Smirnenski starb am 18. Juni 1923 in Sofia.


Buchtipp: Feuriger Weg - Gedichte und kleine Prosa