23.3.21

Hallie Rubenhold: The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden / Aus dem Englischen von Susanne Höbel

 Die Autorin muss wahnsinnig recherchiert haben, fast 20 Seiten lang ist die Bibliografie am Ende.

Mehr als die Benennung im Titel spielt Jack the Ripper im Buch keine Rolle. Hier soll es um seine Opfer gehen. Denen hat Hallie Rubenhold nachgeforscht.

Vorab sind im Buch ein paar Zeilen von der US-amerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde (1934-1992) zu lesen. Sie bezeichnet sich selbst als Schwarze, Lesbe, Feministin, Mutter, Dichterin, Kriegerin:

Ich schreibe für die Frauen, die nicht sprechen,
für die, die keine Stimme haben,
weil sie so voller Angst sind, denn wir wurden gelehrt,
die Angst mehr als uns selbst zu respektieren.
Uns wurde beigebracht, dass die Stille uns retten wird,
aber das wird sie nicht.


Vorangestellt sind ein Stadtplan von London. Den angezeigten Straßen ist jeweils der Anfangsbuchstabe einer der fünf Frauen hinzugefügt. Ich schätze, das waren ihre Wohnorte. 

Im Vorwort wird über London zur Zeit 1887 allgemein berichtet. Aus der Sicht der Reichen und der Armen. Mehr aus der Armensicht: Wenn die Morde in Whitechapel etwas ans Licht brachten, dann die entsetzlichen, unfassbaren Bedingungen, unter denen die Armen in diesem Bezirk lebten. Und dies in allen Lebensbereichen. Die hygienischen Bedingungen, unter denen die Menschen gehaust haben, können, ja mögen wir uns nicht vorstellen. Die, denen es ganz schlimm erging, hausten als Familie in einem Zimmer, das man so gar nicht bezeichnen mag. Da fand alles statt. Da wurde Kohle gelagert, Babys liefen nackig umher, die Notdurft wurde hier getätigt und im Beisein der Kinder wurden neue fabriziert.

Fünf Prostituierte soll Jack the Ripper ermordet haben, doch von dreien der Frauen konnte gar nicht nachgewiesen werden, dass sie diesem Gewerbe nachgingen. Von ihnen wusste man nur, dass sie gelegentlich auf der Straße schliefen, weil ihnen das Geld für eine Unterkunft fehlte. Laut Autopsie wurden alle Frauen in liegender Position ermordet. Niemand in der Nähe hörte Schreie. Eine wurde in ihrem Bett ermordet.

Es lag also nahe, dass sich der Ripper schlafende Frauen suchte. Doch die Polizei hielt hartnäckig an ihrer Theorie von den Prostituierten fest und suchte somit gar nicht erst nach anderen Tätern.

In der Folge werden die fünf Frauen vorgestellt, die bis heute dem Vergessen anheimgefallen sind. Mir war leider auch nur Polly ein Begriff, da sie immer als sein erstes Opfer bezeichnet wurde. 

Aber es ist doch bezeichnend für unsere Gesellschaft, dass wir uns der Täter erinnern und den Opfern, wenn überhaupt, nur mal einen kurzen Gedanken widmen.

Ich beende hier die Buchvorstellung, obwohl ich noch ganz am Anfang bin. Aber die fünf Frauen

Annie Chapman,
Elizabeth Stride,
Catherine Eddowes und
Mary Jane Kelly

sollen im Biografischen Blog in nächster Zeit ihren jeweils eigenen Beitrag bekommen.











21.3.21

Sir Arthur Conan Doyle: Eine Studie in Scharlachrot

Die Geschichten über Sherlock Holmes liebe ich schon seit meiner Jugendzeit. Damals habe ich eine Zeit jeden Sonntagabend die Serie geschaut, noch in Schwarz-Weiß, mit Basil Rathbone.

Vor ein paar Jahren habe ich sie dann als Hörspiel entdeckt und gehe abends quasi mit Holmes und Watson ins Bett.

Vor Längrem habe ich mir eine dicke Gesamtausgabe gekauft und bei Weltbild entdeckte ich einen Schuber, den ich einfach haben musste. Alleine schon die Aufmachung der Bücher gefällt mit sehr gut. Das Papier fasst sich sehr schön an, nicht zu fest und grob, aber auch nicht so dünn, dass man Angst hat, es einzureißen. Und das Schönste für mich sind die wunderschönen Illustrationen von George Hutchinson.

Die erste Geschichte, die ich daraus las, war Eine Studie in Scharlachrot. Doyle hat sie mit 27 Jahren geschrieben und niemand wollte sie haben. Er war noch als Arzt beschäftigt und hatte schon einige Geschichten an Zeitschriften verkauft.

Endlich fand er einen Verlag, Ward, Lock & Co., dem er die Rechte für £25 verkaufte, der ihm aber keine Hoffnung auf Veröffentlichung machte. Im November 1887 erschien der Roman im Magazin Beeton's Christmas Annual als Titelgeschichte. Bis Weihnachten war es ausverkauft. 28 bestätigte Exemplare gibt es heute noch von dieser Ausgabe, die natürlich unter Sammlern einen hohen Wert haben. Bei einer Versteigerung von Sotheby's in New York einer vollständigen, aber leicht beschädigten Ausgabe im Jahr 2004 wurde ein Preis von $153.600 erzielt. Es war zu der Zeit das teuerste Magazin der Welt und gilt als Renditeobjekt.

In der ersten Buchauflage von 1888 stammten die Illustrationen von Charles Altamont Doyle, dem Vater Arthur Conan Doyles. Ein Jahr später erschien schon eine zweite Auflage, diesmal mit Illustrationen von George Hutchinson.

Hier lernen sich Mister Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson kennen.

Watson, im Afghanistankrieg verwundet, kehrt nach London zurück, wo er auf der Suche nach einer preiswerten Wohnmöglichkeit durch einen Bekannten auf Sherlock Holmes stößt. Sie beziehen gemeinsam eine Wohnung in der Baker Street Nr. 221B. So nach und nach findet Watson heraus, welcher Tätigkeit sein neuer Bekannter nachgeht. Er ist "beratender Detektiv". Nicht nur Privatleute, nein, auch Scotland Yard wendet sich an ihn, wenn die Ermittler dort nicht mehr weiter wissen.

Und so flattert eines Tages ein Brief von Inspektor Tobias Gregson ins Haus, der Holmes um Hilfe bittet. Ein Toter, ermordet, liegt in einem Haus, in deutscher Schrift ist an eine Wand das Wort "Rache" geschrieben und man findet den Ring einer Frau bei ihm.

Und so macht sich Sherlock Holmes an die Arbeit und Watson darf ihn begleiten.

Es war schon eigenartig, eine Sherlock-Holmes-Geschichte zu lesen. Ich hatte dabei immer die etwas langsame und behäbige Stimme des Dr. Watson von den Hörspielen im Ohr und passte mich irgendwie der Geschwindigkeit an. Das tat meinem Lesevergnügen aber keinen Abbruch. 

18.3.21

Helga Schubert: Vom Aufstehen - Ein Leben in Geschichten

Helga Schubert ist für diesen Text 2020 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet worden. Da war sie 80 Jahre alt und somit die älteste Teilnehmerin an diesem Wettbewerb überhaupt. Laut Wikipedia sei ihr Text

"eine Hommage an Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr', die mit einer Reflexion über das Aufstehen beginnt und die den Protagonisten am Ende zum Aufstehen auffordert – Ich sage dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen –, sagte Schubert in ihrer Dankesrede, die sie live in einer Videoübertragung von zu Hause aus hielt. Ursprünglich hätte sie den Text, anspielend auf ihr eigenes Alter und Ingeborg Bachmanns Text, Das achtzigste Jahr nennen wollen, habe die Idee dann aber verworfen".

Dies war nicht die erste Einladung zu dem Wettbewerb. Die Schriftstellerin, 1940 in Berlin geboren, erhielt schon mal eine auf Vorschlag von Günter Kunert, das war 1980. Sie sollte ihren Ausreiseantrag zurückziehen, was sie nicht tat. So verbot man ihr die Ausreise aus der DDR nach Österreich. Begründung? Es gebe keine "deutsch Literatur". Mit dem Unternehmen "Bachmannpreis" wolle man nur das Phänomen der deutschen Literatur vorantreiben. Außerdem sah die Stasi Marcel Reich-Ranicki, der Juryvorsitzender war, als "berüchtigten Antikommunisten" an.

Neunundzwanzig Erzählungen enthält dieses Buch - Erzählungen aus einem reichen Leben, einem deutschen Jahrhundertleben. Helga Schubert erzählt ganz unaufgeregt aus der Kinderzeit, in der ihr der Vater fehlt, der im Krieg gefallen ist, und sie die Sommer bei der Großmutter verlebt. Aus ihrem Leben in der DDR, wo sie sich erst mit Macht an den Gedanken zu gewöhnen versucht, dass dieses Leben, in einem eingemauerten Land, wirklich ihres ist. Mit 47, das war 1987, durfte sie nach Amerika. Da dachte sie, völlig verausgabt, dass sie diese wunderbare Welt nie sehen würde.

"Es hat seine eigene Komik, dass ein E-Book-Verlag alle meine Bücher, auch die ohne Druckgenehmigung innerhalb der DDR-Zeit und die nach 1990 erschienenen, unter dem Label DDR-Autoren herausgibt."

Die Wendezeit, als die Mauer fiel - für mich damals eine unwirkliche Zeit, da ich mich immer wieder fragte: Passiert das gerade wirklich? Eine glückliche Zeit für die Autorin, die mehr als 14 Jahre von einem Spitzel des MfS (Deckname Adler), der ein früherer SS-Mann war, beobachtet wurde.  

Helga Schubert lässt uns teilhaben an ihren Gedanken zum Thema Heimat, an Erinnerungen an ihre Mutter, die sie nie lieben konnte und die einen größeren Raum einnehmen. Was soll man aber auch von einer Mutter halten, die ihrer Tochter erklärt, sie hätte sie nicht abgetrieben, sie während des Zweiten Weltkriegs auf die Flucht mitgenommen und sie beim Einmarsch der Russen nicht erschossen, wie es der Großvater verlangte. Und damit soll es nun gewesen sein? Mehr Ansprüche braucht sie an sie nicht stellen? 
Ich kann solche Mutter-Tochter-Probleme gut nachvollziehen. Die hat man nicht nur als Kind und streift sie als Erwachsene ab. So etwas kann einen ewig begleiten. Entweder man schafft es, für sich einen Schlusspunkt zu setzen und sein Leben weiterzuleben, oder man geht dran zugrunde. Ich freue mich, dass Helga Schubert ihren Weg gefunden hat. 

Und sie denkt übers Alter nach:

"Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz."

Glücklich, wer das von sich sagen kann.

Glück wünsche ich auch diesem Buch, das hoffentlich sehr viele Leser*innen findet.


Ich bedanke mich beim dtv-Verlag für dieses Rezensionsexemplar.

12.3.21

Bruno Apitz: Nackt unter Wölfen

Bruno Apitz, 1900 geboren, war in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert, zuletzt acht Jahre bis zur Befreiung im KZ Buchenwald.

Schon ziemlich zu Beginn bin ich über diesen Satz gestolpert:

"Deutsches Volk, was für ein Rindvieh bist du ... Erst verdunkelst du dir das Gehirn und dann die Fenster."

Wenn ich so schaue, mit was wir uns heutzutage beschäftigen, was die Masse für ein TV-Format schaut, wie die Politiker uns für dumm verkaufen und nur noch eine Politik des Geldes betreiben, dass der Paragraf 1 des Grundgesetzes schon längst überholt ist, was uns alles verschwiegen wird, was für Kriegstreiber wir eigentlich sind, da finde ich das Zitat beängstigend aktuell.

Zweiter Weltkrieg, die letzten Monate vor der Befreiung.

Ein kleiner Junge wird von einem polnischen Häftling mit ins KZ Buchenwald geschmuggelt. Ein paar Männer verstecken ihn entgegen den Befehlen des illegalen Internationalen Lagerkomitees, als der Pole nach Bergen-Belsen verlegt wird. Das wäre das Todesurteil des Jungen gewesen.

Dieser kleine Junge bringt aber nun alle, die von ihm wissen, in Gefahr. Und der Kreis derer, die Bescheid wissen, wird immer größer. Pippig nimmt die Sache in die Hand. Kümmert sich; sogar Milch treibt er für den Kleinen auf.

Dann taucht ein Zettel auf, der in die falschen Hände gerät. Im Lager soll ein Kind versteckt sein. Höfel und Kropinski, die in der Effektenkammer arbeiten, werden aufs Schwerste gefoltert. Die Genossen, die sich im Geheimen treffen, überlegen, wie ihnen geholfen werden kann.

Die Effektenkammer bekommt einen Neuen. Als Ersatz für Höfel und Kropinski. Doch die Männer bekommen raus, dass dieser Wurach ein Zinker ist.

Und wieder ist es Pippig, der sich in Gefahr begeben muss. Versteckte Waffen müssen umgelagert werden.

Höfel und Kropinski befinden sich immer noch in Zelle Nr. 5. Höfel lag nach der Tortur mit der Leimzwinge mit hohem Fieber auf dem nasskalten Zementboden. Seine Peiniger stehen um ihn herum und horchen, ob er in seinem Fieberwahn seine Geheimnisse preisgibt.

Neue Häftlinge werden gesucht, aus denen man etwas herauspressen könnte: Rose, der vor Angst schlottert, und Pippig.

Die Befreier rücken immer näher. Aber schaffen sie es rechtzeitig? Ich fiebere mit ihnen mit. Wage mir nicht auszumalen, was nun mit Pippig geschieht. Oder mit Höfel, über den Reineboth gerade sagt:

"Heb ihn und den Polen noch auf, die laufen uns nicht davon. Lass den Mandrill noch eine Weile mit ihnen spielen, vielleicht quetscht er doch noch was aus ihnen raus. Umlegen kann er sie am letzten Tage noch. Abgeschrieben sind sie ja bereits..."

Mir kommen die Tränen bei so viel Menschenverachtung.

Plötzlich geistert das Wort "Evakuierung" herum. Was sollen die Genossen tun? 50.000 Menschen evakuieren lassen und damit unweigerlich in den Tod schicken? Diese Entscheidung muss das ILK treffen.

Pippig holten sie zum Verhör und Rose bleibt in der Zelle alleine zurück. Er erinnert sich an die ersten Jahre im Lager:

"Den Graben hatten wir zuzuwerfen, das war unsere Arbeit. Wie harmlos das klingt! Haben Sie eine Ahnung! [...] Aber da gibt's noch Schlimmeres. Die verfluchte Scheißerei! Du möchtest dir die Hosen herunterreißen und an Ort und Stelle ... Das ist verboten. Du musst dich beim Posten abmelden und in den Wald gehen. Hahahaaa, in den Wald ... Das heißt: über die Postenkette, und wer da drübergeht, wird auf der Flucht erschossen. Nun scheiß mal ... Aber der Wanst will dir auseinanderplatzen! Im letzten Moment, wenn es schon in die Hosen abgehen will, ist dir alles egal. Scheißen ist notwendiger als sterben. Du lässt die Picke fallen, stolperst über den Erdhaufen zum Posten, die Sensenmesser zerschneiden dir den Rücken, zitternd ziehst du vor dem Knaben dein Krätzchen. ,Häftling bittet austreten zu dürfen...'

Kauerst du dich nun zu nah bei dem nieder, dann springt er auf dich los, kracht dir den Kolben ins Kreuz: "Schwein! Willst du mir deinen Mist vor die Nase setzen?" Gehst du aber einen Meter zu weit, dann reißt er vielleicht den Karabiner an die Backe...

Von Beginn an sind in der Geschichte zwei Dinge klar. Wie groß die Hoffnung der Häftlinge auf ihre Befreiung ist. Deutlich an den Landkarten an den Wänden, an denen der Frontverlauf markiert wurde.

Und dass die Häftlinge nicht als Menschen angesehen wurden. Wie viel Kraft muss in ihnen stecken, dass sie bei all dem Grauen doch menschlich blieben.

Doch sie mussten auch Entscheidungen fällen, die uns unmenschlich anmuten. Wie Bochow, der Höfel befiehlt, das Kind auf den nächsten Transport zu schicken, der unweigerlich in den Tod führt.

"Es ist ein Wunder gewesen, dass er den Koffer überhaupt bis hierher gebracht hatte. Jankowski wies zitternd alle Gedanken ab, um das Wunder nicht zu verscheuchen. Nur an eines glaubte er mit heißer Inbrunst: Der barmherzige Gott wollte es sicher nicht zulassen, dass der Koffer in die Hände der SS geriet."

Und was Höfel mit den Gedanken an seine eigene Familie für einen innerlichen Kampf ausficht.

Und es hängt ja nicht nur die Entscheidung in der Luft, bleibt der Junge oder nicht. Für den Fall, dass man ihn behält, muss jemand entscheiden, jemand anderen auf den Transport zu schicken. Wer soll dieser Jemand sein? Und wer trifft die Entscheidung?

In was für einem Zwiespalt müssen diese Männer gesteckt haben.

Und wem konnte man vertrauen? Die Häftlinge waren ja nicht alle politische Gefangene. Allein unter den deutschen Häftlingen gab es jede Menge Berufsverbrecher. Und selbst unter den politischen Gefangenen gab es viele, denen das eigene Hemd näher war als alles andere.

Beim Erstellen der Transportliste meinte Krämer zu Pröll:

"Manchmal denke ich, manchmal denke ich, wir sind doch eine verdammt hartgesottene Gesellschaft geworden..."

Das mussten sie doch werden. Wie hätte es anders sein können unter diesen Bedingungen. Und trotzdem haben sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt. Auch wenn sie schreckliche Entscheidungen treffen mussten:

"Walter! Zum Donnerwetter! Deiner eigenen Sicherheit wegen sollst du nie mehr von den Dingen wissen, als für dich notwendig ist, verstehst du es nicht? Es geht um deinen Schutz!"

"Um den Schutz eines Kindes geht es! {Du verlangst von mir, du - ihr - was weiß ich - ihr verlangt von mir, dass ich blind und stur ein Kind in den Tod schicke!}"

{"Wer sagt, dass das Kind in den Tod..."

"Bergen-Belsen! Genügt das? Ich bin doch kein kalter Mörder!"...}

In der Neuauflage vom Aufbau-Verlag stehen viele Wörter, Satzteile und Sätze in Klammern, die in vorherigen Ausgaben nicht vorhanden sind. Es sind meist Passagen, die sehr krass klingen. Die die Gefahr und den Ernst der Lage noch deutlicher widerspiegeln. Auch wie die SS mit den Gefangenen umgeht, wird mit solchen Passagen deutlicher.

Das Schlimme ist ja: Die politischen Gefangenen mussten in den KZ Ungeheuerliches erleiden. Und wenn sie das überlebt haben und dann in der DDR weitergelebt haben, haben sie unter Umständen wieder Schlimmes erleben müssen.

Es sei denn, sie haben sich angepasst.

8.3.21

Kate Chopin

Kate Chopin (1850-1904) ist vor allem durch ihren Roman "Das Erwachen" (1899) bekannt, der heute zum Kanon der englischsprachigen Literatur zählt.

Geboren wurde sie als Katherina O'Flaherty in St. Louis. Der Vater und ihre Schwester starben während ihrer Kindheit. Mit ihrem Mann, dem Plantagenerben Oscar Chopin lebte sie in New Orleans, wo sie sechs Kinder bekam. Als ihr Mann 1882 - Kate Chopin erfüllte in dieser Zeit ihre Rolle als Hausfrau - kehrte sie auf Drängen der Mutter nach St. Louis zurück. Diese starb im folgenden Jahr, was Kate Chopin in eine tiefe Krise stürzte, die sie überwand, als ein befreundeter Arzt ihr riet, mit dem Schreiben zu beginnen. In ihren Gedichten und Prosawerken steht immer wieder die Beziehung zwischen Mann und Frau im Mittelpunkt.

Ein erster Roman wurde 1890 veröffentlicht, viele Kurzgeschichten zuerst in großen Zeitschriften, die dann in zwei Sammelbänden veröffentlicht wurden. Doch je mehr sie sich entwickelte und begann, geltende gesellschaftliche Moralvorstellungen infrage zu stellen, wurde sie von ihrem Verleger stärker zensiert.

Mit ihrem Roman "Das Erwachen" löste sie 1899 einen Skandal aus, da sich die Protagonistin von Mann und Kindern trennt und sie versucht, sich selbst zu verwirklichen, was ihr in dieser Gesellschaft leider nicht gelingt. Kate Chopin erhielt für dieses Werk durchweg vernichtende Urteile, ihre Freundinnen kehrten ihr den Rücken zu und die Buchhandlungen nahmen es aus den Regalen.

Kritisiert wurde vor allem die detaillierten Schilderungen der Liebesaffären der Protagonistin, während es Kate Chopin darauf ankam, den Bewusstwerdungsprozess einer Frau zu zeigen, die es wagte, ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter gegen individuelle Freiheit und Selbstbestimmung einzutauschen.

Eine weitere Kurzgeschichtensammlung konnte sie nicht veröffentlichen; so zog sie sich zurück und starb im August 1904 an einer Gehirnblutung.

Sie geriet in Vergessenheit. Erst 1969 erhielt ihr literarisches Schaffen mit einem Gesamtwerk die Anerkennung, die es verdient. Auch in den 1970er und 80er Jahren wurden in zahlreichen Publikationen erneut die Aufmerksamkeit auf ihr Leben und Werk gerichtet. "Das Erwachen" zählt heute als früher Roman der Frauenbewegung.


Es ist ein ganz leises Buch. Ist das aber nicht die Kunst des Schreibens? Beim Lesen direkt merkt man das gar nicht so richtig, weil es so stilles dahinplätschert. Aber dann, peng, wird einem bewusst, was da für Brennstoff drin ist. Was die Frau da eigentlich getan hat. Heutzutage ist das ja nichts mehr, aber zu der Zeit: Was für ein Stoff.

Und obwohl ich vorher schon was zu den Hintergründen gelesen habe, ist es mir erst im Nachhinein so richtig bewusst geworden.

7.3.21

Die Frau in der Gesellschaft

 


Agnes-Marie Grisebach: Eine Frau im Westen

Agnes-Marie Grisebach: Eine Frau Jahrgang 13 - Roman einer unfreiwilligen Emanzipation

Alice Schwarzer: Von Liebe + Haß

Angélica Gorodischer: Eine Vase aus Alabaster

Anna Banti: Artemisia

Anna Dünnebier: Der Quotenmann

Anna Johann: Geschieden, vier Kinder, ein Hund na und?

Anna Johann: Ich liebe meine Familie ehrlich

Anna Johann: Mordsglück

Anne Dessau: Abschied von Buddenhagen

Anne Dessau: Spurensuche - sechs Biographien ungewöhnlicher Frauen

Anne Finger: Lebenswert - Eine behinderte Frau bekommt ein Kind

Binder & Co.: Mord macht tot

Birgit Heidereich: Feuerspur - Eine Liebesgeschichte

Birgit Rabisch: Möglichkeit der Liebe

Birgit Stobbe: Pfoten weg, Marie

Britt Arenander: Flirt mit fatalen Folgen

Britta Blum: Babys fallen nicht vom Himmel

Carla Corso, Sandra Landi: Porträt in grellen Farben - Leben und Ansichten einer politischen Hure

Christine Grän: Die kleine Schwester der Wahrheit

Claudia Keller: Der Flop

Claudia Keller: Frisch befreit ist halb gewonnen - Reisebriefe einer verhinderten Emanze

Claudia Keller: Kein Tiger in Sicht - Satirische Geschichten

Claudia Keller: Kinder, Küche und Karriere - Neue Briefe einer verhinderten Emanze

Claudia Keller: Windeln, Wut und wilde Träume - Briefe einer verhinderten Emanze

Colette Dowling: Der Cinderella-Komplex - Die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit

Dagmar Chidolue: Annas Reise

Dietrich Gronau, Anita Jagota: Über alle Grenzen verliebt - Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Ausländern

Doris Lerche: 21 Grüne, warum eine Frau mit einem Mann schläft

Doris Lerche: Der Lover

Doris Lerche: Eine Nacht mit Valentin

Dorit Zinn: Mein Sohn liebt Männer

Dorit Zinn: Mit fünfzig küssen Männer anders

Elisabeth Beck-Gernsheim: Vom Geburtenrückgang zur neuen Mütterlichkeit? - Über private und politische Interessen am Kind

Erika Schilling: Manchmal hasse ich meine Mutter - Gespräche mit Frauen

Eva Dane, Renate Schmidt: Frauen & Männer und Pornographie

Eva Heller: Beim nächsten Mann wird alles anders

Eva Rühmkorf: Hinter Mauern und Fassaden - Erinnerungen einer engagierten Frau

Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte

Fanny Müller: Stadt, Land, Mord - kriminelle Briefe nachgelassener Frau

Fern Kupfer: Liebeslügen

Fern Kupfer: Zwei Freundinnen

Francesca Rendle-Short: Molly und Mary - die Geschichte einer Freundschaft

Francoise Giroud: Lehrreiche Lektionen

Gabriele M. Göbel: Amanda oder Der Hunger nach Verwandlung - Erzählungen

Gerhard Amendt: Die bevormundete Frau oder Die Macht der Frauenärzte

Gillian Hanscombe: Gefährliche Schwestern 

Gisa Margarete Zigan: Cyberlu

Gisela Kramer: Wer ist die Beste im ganzen Land?

Gisela Losseff-Tillmanns: Frau und Gewerkschaft

Gudrun Langer-Aßmann: Das Haus zwischen den Dörfern

Hannelore Krollpfeiffer: Telefonspiele

Hansjürgen Blinn: Emanzipation und Literatur - Texte zur Diskussion - Ein Frauen-Lesebuch - Mit einem Essay: Die Diskussion um den Status der Frau im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Harriet Goldhor Lerner: Wohin mit meiner Wut? - Neue Beziehungsmuster für Frauen

Helena Klostermann: Alter als Herausforderung - Frauen über sechzig erzählen

Helga Häsing, Ingeborg Mues: Du gehst fort, und ich bleib da - Gedichte und Geschichten von Abschied und Trennung

Hera Lind: Das Superweib

Hera Lind: Das Weibernest

Hera Lind: Der gemietete Mann

Hera Lind: Die Zauberfrau

Hera Lind: Ein Mann für jede Tonart

Hera Lind: Frau zu sein bedarf es wenig

Hilla Janssen: Im Kühlschrank brennt immer ein Licht

Ida Baker: Ein Leben für Katherine Mansfield

Imme de Haen: Aber die Jüngste war die Allerschönste - Schwesternerfahrungen und weibliche Rolle

Inge Stephan, Regula Venske, Sigrid Weigel: Frauenliteratur ohne Tradition? - Neun Autorinnenporträts

Ingeborg Mues: Abgang mit Applaus

Ingeborg Mues: Die Phantasie ist eine Frau - 26 Originalerzählungen

Ingeborg Mues: Mord am Küchentisch

Ingeborg Mues: Wer will schon einen Weihnachtsmann - Garstige Geschichten zum Fest

Ingrid Hahnfeld: Brot für Schwäne

Janina David: Leben aus zweiter Hand

Jil Karoly: Ein Mann für eine Nacht

Jil Karoly: Mannomann

Jil Karoly: Mein wundervoller Wonderbra

Johanna Moosdorf: Die Freundinnen

Johanna Moosdorf: Die Tochter

Johanna Moosdorf: Fahr hinaus in das Nachtmeer - Gedichte

Judith Jannberg: Ich bin ich

Jutta Heinrich: Alles ist Körper

Jutta Menschik: Ein Stück von mir - Mütter erzählen

Karin Flothmann: Vergewaltigung - Erfahrungen danach

Karin Hartig: Reihenhaus-Blues

Karin Rüttimann: Warten auf L. - Sylter Winterballade

Katharina Bareiter: Depression - Rückzug aus dem Leben

Katharina Höcker: Durststrecken - Zwischen Abhängigkeit und Aufbruch - Frauen und Alkohol

Katja Leyrer: Mythos Kleinfamilie Dichtung und Wahrheit über das Leben mit Kindern - Briefwechsel

Katrin Rohnstock: Stiefschwestern - Wast Ost-Frauen und West-Frauen voneinander denken

Katrin & Erik Skafte: Lauter ganz normale Männer - Ein Krimi nur für Frauen

Kristel Neidhart: Scherbenlachen

Lea Wilde: Männer aus zweiter Hand

Lea Wilde: Väter und andere Helden

Leona Siebenschön: Der achte Himmel - Wie Ehen gelingen

Linda Gray Sexton: Auf der Suche nach meiner Mutter, Anne Sexton

Liselotte Marshall: Die verlorene Sprache

Luise Rinser: Unterentwickeltes Land

Lydia Potts: Aufbruch und Abenteuer - Frauen reisen um die Welt ab 1785

Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau - Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter

Maria Antònia Oliver: Drei Männer

Maria Antònia Oliver: Miese Kerle 

Maria Benedickt: Fräulein Gloria geht baden

Maria Frise: Auskünfte über das Leben zu zweit

Maria Frise: Wie du und ganz anders - Mutter-Tochter-Geschichten

Maria Gronau: Weiberlust

Maria Gronau: Weibersommer

Maria Gronau: Weiberwirtschaft

Maria Nurowska: Briefe der Liebe

Maria Nurowska: Der russische Geliebte

Maria Nurowska: Ehespiele

Maria Nurowska: Ein anderes Leben gibt es nicht

Maria Nurowska: Jenseits ist der Tod

Maria Soulas: Kisses on Ice

Maria Soulas: On the Rocks

Marianne Brentzel: Nesthäkchen kommt ins KZ - Eine Annäherung an Else Ury 1877-1943

Marianne Grabrucker: Karrieremütter - Superkids? - Berufstätige Frauen und ihre erwachsenen Kinder ziehen Bilanz

Marianne Grabrucker: Typisch Mädchen

Marianne Schmitt: Fliegende Hitze - Frauen durchleben Wechseljahre

Marieluise Ritter: Requiem für einen Macho

Marlene Stenten: Puppe Else - Eine Lesben-Novelle

Martina Peter: Abgesang

Martine Carton: Etwas Besseres als einen Ehemann findest du allemal

Mary Morell: Letzte Sitzung

Michaela Thewes: Die Lavendelschlacht

Miriam Tlali: Geteilte Welt - Ein Roman aus Südafrika

Monika Beckerle: Depression - Leben mit dem Gesicht zur Wand

Monika Helmecke: Die Vase

Nancy Friday: Wie meine Mutter - My Mother my self

ohne Autor*in: Frauenarbeit und Beruf 

ohne Autor*in: Sei wie ein Veilchen im Moose - Aspekte feministischer Ethik

Oriana Fallaci: Brief an ein nie geborenes Kind

Petra Urban: Die Maulwürfin

Renate Blaes: Post von Dornröschen

Rosamond Lehmann: Aufforderung zum Tanz

Rosamond Lehmann: Der begrabene Tag

Rosamond Lehmann: Wie Wind in den Straßen

Sabine Deitmer: Auch brave Mädchen tun's

Sabine Deitmer: Bye-bye, Bruno - Wie Frauen morden

Sabine Deitmer: Die schönsten Männer der Stadt

Sabine Deitmer: Dominante Damen

Sabine Heller: Die Reise mit meinem Geliebten

Sabine Pachali, Karin Ebling: Alles, alles geht vorbei

Shirley Shea: Eine von uns wird sterben

Shirley Shea: Katzensprung

Shulamit Arnon: Die gläserne Brücke

Signe Hammer: Töchter und Mütter

Silke Mertins: Zwischentöne

Silvia Molina: Die Liebe, die du mir versprachst

Susan Stinton: Martha flog auf der Engelskuh

Susan Szabo: Amor zählt bis drei

Susanne Bros: Selbstbewußt und voller Power - Junge Frauen von heute

Susanne Fülscher: Lipstick

Susanne Fülscher: Meeresruh

Susi Piroué: Vom Vergnügen, mit sich selbst zu reisen

Sybil Oldfield: Frauen gegen den Krieg

Sylvia Fraser: Meines Vaters Haus - Geschichte eines Inzests

Tina Grube: Ich pfeif auf schöne Männer

Tina Grube: Lauter nackte Männer

Tina Grube: Männer sind wie Schokolade

Ursula Katthöfer: Hartmanns letzter Tanz

Ursula Maria Wartmann: Tane Lissi kann auch anders

Ursula Ziebarth: Eine Frau aus Gold - Über das Zutrauen zum Weiblichen

Verena Stefan: Es ist reich gewesen - Bericht vom Sterben meiner Mutter

1.3.21

Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht

Seit ich auf Twitter bin, habe ich viel mitbekommen über die Ungerechtigkeiten im Literaturbetrieb. Sei es durch die Aktion #frauenlesen oder insbesondere #frauenzählen, die durch @nachtundtagblog angestoßen wurde. Oder den Einblick, den ich ein bisschen in Wikipedia bekommen habe, wie es da zu geht. 

Nachdem ich nun noch das Vorwort von Ilka Piepgras in diesem Buch gelesen habe, würde ich am liebsten meine Bücher, die von Autoren geschrieben wurden, aus meinen Regalen pfeffern. 

Noch dazu, wenn man liest, was manch Schriftstellerin zu dem Thema beizusteuern hat.

Anne Tyler hat ihren Beitrag untertitelt mit "Ich schreibe nur". Das wohl auf Antwort auf die Frage einer Mutter: "Haben Sie schon Arbeit gefunden? Oder schreiben Sie nur?"

Von Anne Tyler habe ich bisher drei Bücher gelesen und fand sie allesamt sehr gut: Der leuchtend blaue Faden, Atemübungen und Launen der Zeit. Ersteres habe ich als schöne Ausgabe von der Büchergilde.

Die Figur eines Mannes mit Bart und Lederhut mit breiter Krempe trug Anne Tyler ziemlich lange schwanger, kam ihr doch immer wieder das Leben dazwischen. Mich hat es auch gewundert, mit welcher Ruhe sie es hinnimmt, nicht regelmäßig schreiben zu können. Ist sie es doch, die zu Hause alles stemmen muss. Aber: "Wahrscheinlich setzte ich mich ein Dutzend Mal in der Woche hin und grübelte gründlich über alles nach. Oft versuchte ich damit nur, mich zu überzeugen, dass auch mein Beitrag Bedeutung hatte." 


Egal, über welches Thema ein*e Schriftsteller*in schreibt: "...ein gutes Buch ist ein gutes Buch, es spricht auf eine universelle Art zu uns, es verwickelt uns, lässt uns zweifeln und nachdenken, es macht uns hungrig und glücklich, niemals satt."

Bei den schreibenden Kolleg*innen erkennt man das, meint Eva Menasse, "aber wie zum Teufel macht man es selbst".

Sie selbst glaubt, man muss sich täglich an den Tisch setzen, wie der/die Beamte. Jeden Tag pünktlich, egal, wie kurz die Nacht war. Und fällt einem nichts ein, klappt es vielleicht mit dem Korrigieren. Und so ganz nebenbei gibt sie uns eine Kostprobe von dem, was sie besonders gerne macht: Sätze umschreiben: "Versunken wie ein Kind spiele ich stundenlang mit meinen eigenen Worten. Ich schiebe sie hierhin und dahin, streiche, ergänze, erfreue mich daran."


Elif Shafak macht sich Gedanken über Sprache, Heimat (Heimaten würde sie lieber sagen und das kann sie. Denn der Duden bejaht ihre Frage, ob es für Heimat auch einen Plural gibt). Türkisch ist die Muttersprache, die Zweitsprache Spanisch, danach erst Englisch. Und irgendwo war immer Französisch, die Sprache, die sie zuerst hörte, da sie in Frankreich zur Welt kam. Doch sie zog früh weg, sodass sie diese Sprache nie sprach.

Ja, sie hat einige Heimaten, ist aber auch Europäerin, Weltbürgerin: "Weltbürgerin zu sein heißt nicht, dass man kein Gefühl von Zugehörigkeit hat. Es heißt nicht, dass man ziellos, sorglos, verantwortungslos über allem schwebt.

Weltbürger sein heißt, dass du gleichzeitig ,hier' und ,überall' sein kannst. Es heißt, dass du deinen Ort, deine Kultur, dein Land von Herzen lieben kannst und dir gleichzeitig das Wohl des Planeten, die Zukunft der Welt am Herzen liegen kann. Unser Herz und unser Geist sind groß genug, um sich mit vielen Orten verbunden zu fühlen." - Seite 45

Ihre ersten Romane schrieb Elif Shafak auf Türkisch, doch mit dem späteren Englisch hatte sie mehr "Raum und Freiheit". Dafür, dass sie auf Englisch schreibt, wurde sie anfangs von türkischen Nationalisten als "Verräterin" beschimpft.

Elif Shafak lernte erst spät schreiben, aber früh lesen. Immer, wenn sie ein Buch durch hatte, fing sie noch einmal von vorne an und überlegte, was sie anders schreiben würde: "Irgendwo in meiner Seele hatte der Wind der Fantasie eine Tür aufgeblasen, und ich begann Schritt für Schritt ins Land der Geschichten zu wandern."


Ich habe noch nie in einem Text so viele "Ich erinnere mich..." gelesen wie in diesem Mariana Leky. Sie erinnert sich an "eine Übung im Grundkurs Kreatives Schreiben" und es wird überhaupt nicht langweilig, ihren Erinnerungen zu folgen, auch wenn jeder Absatz mit "Ich erinnere mich..." beginnt.

Zum Beispiel erinnert sie sich, "dass wir in den Seminaren über unsere Texte sprachen, als seien sie begehbar. Wir gingen durch die Texte, wir sagten: Da muss neu verputzt werden, da steht was schief, da steht was sehr gut, da fällt was gleich um ... Ich erinnere mich, dass ich dachte: Das ist keine Schreibschule, das ist Innenarchitektur."


Von Joan Didion habe ich mir gerade "Woher ich kam" bestellt. Nun treffe ich sie hier im Buch. Ihrer Meinung nach ist  "Schreiben der Akt, ich zu sagen, sich anderen aufzudrängen, zu sagen: Hör mir zu, sieh es wie ich, ändere deine Haltung". Sie war keine Denkerin. Überhaupt wusste sie nur, was sie nicht war, "und ich brauchte Jahre, um herauszufinden, was ich war.

Ich war Schriftstellerin."

Für sie ist Grammatik ein Klavier, das sie nach Gehör spielt. Grammatik besitzt eine unendliche Macht. "Die Struktur eines Satzes zu verschieben heißt, die Bedeutung zu verschieben..."

Als sie "A Book of Common Prayer" begann, hatte sie zunächst viele Bilder im Kopf. Sie erfand Charlotte Douglas und wusste, warum sie zum Flughafen fuhr, auch wenn Victor es nicht wusste. Wenn Joan Didion auf die auftauchenden Fragen die Antworten wüsste, hätte sie diesen Roman niemals schreiben müssen.


Antonia Baum kann überall schreiben. Derzeit sitzt sie in einem Café und schreibt anscheinend an dem Text für dieses Buch. Zumindest schreibt sie uns persönlich an. Ihre Zeit fällt in zwei Teile: Der eine ist die Zeit, die sie mit ihrem Kind verbringt, die andere ist Arbeit. Der Teil der Arbeit betrifft aber nicht nur das Schreiben, sondern auch alles andere, was an Leben anfällt. Dann sind da noch die "systemerhaltenden Maßnahmen" wie den Mann ab und zu "außerhalb unserer Wohnung treffen", damit man sich weiterhin mag und sich nicht trennt. Auch soziale und berufliche Kontakte müssen gepflegt werden, da Antonia Baum hauptberuflich Journalistin ist und drittens muss man sich auch noch ein wenig um sich selbst kümmern.

Schreiben ist für sie eine große Sache und ihr Verhältnis dazu "nicht unsentimental und nüchtern und unaufgeregt und praktisch". Aber sie muss sich so verhalten, "um schreiben zu können, und darüber bin ich nicht glücklich".

Dass sie überall schreiben kann ist erst, seit sie ein Kind hat. Es geht gar nicht anders. Ihr Bücherschreiben hat nichts mit dem zu tun, wie Schriftsteller*innen auf Kalenderblättern abgebildet werden. Ihr Schreiben am Buch ist durchgetaktet, da sie ja hauptsächlich journalistisch schreiben muss. Das Leben eines "in der Regel als männlich gedachten, weltabgewandten, schwebenden Schriftsteller-Schriftstellers" kann sich nur jemand leisten, der alleine ist oder viel Geld hat, oder aber "wem das Leben (die Kinder) vom Leib gehalten wird (in der Regel von Frauen).

Antonia Baum überlegt, ob es klug ist, so viel Privates über Kind und so preiszugeben, kulturell gesehen ist das ja nichts Weltbewegendes. Zumindest nicht für Männer, die ja immer noch zum größten Teil über die kulturelle Deutungsmacht verfügen. Wenn es dann aber doch die ein oder andere Frau schafft, wird sie hauptsächlich von Frauen gelesen. Auch über Fragen von "Sexismus, sexualisierte Gewalt, Lohnungerechtigkeit" diskutieren hauptsächlich Frauen, also bleiben sie "in ihrem Frauen-Bereich". Die Männer werden sich mit diesen Themen nicht auseinandersetzen. Diese Themen interessieren wahrscheinlich ,nur' die Hälfte der Menschen und die hat wesentlich weniger Macht, "und das ist ein Dilemma, aus dem Frauen nicht herauskommen".


Kathryn Chetkovich
schreibt in ihrem Beitrag vom Neid auf den Erfolg eines Schriftsteller-Mannes, den sie in einer Künstlerkolonie kennenlernte. Er sieht die größte Verantwortung darin, die Arbeit zu machen - also schreiben. Das Selbstverständnis, mit dem er darüber sprach, brachte Kathryn Chetkovich dafür nicht auf "für die Stunden, die ich tagträumend am Schreibtisch saß, wenn ich hübsche kleine Sätze aneinanderreihte". Für sie "war Arbeit immer der Job, für den ich bezahlt wurde, Dienstleistungen, die anderen zugutekamen".

Das erste, worum sie ihn beneidete, war, dass er an seine Arbeit glaubte.

Wieder daheim, entspann sich zwischen beiden ein Briefwechsel. Was konnte sie schon schreiben, außer über den kranken Vater, allerlei Erledigungen und Besuche im Krankenhaus. Er dagegen schrieb über "die Erfolge und Niederlagen an seinem Schreibtisch, wo er an einem Familienroman arbeitete" - ja, er hatte das Schriftstellerleben, das sie nicht führte. Und nicht genug, dass sie derzeit kein Schriftstellerleben hatte, löste das Wissen, dass er auch noch vorankam, "ein Gefühl von Scham und Verlassenheit in mir aus". 

Das Verhältnis mit dem Kollegen entwickelte sich nach dem Tod des Vaters. Sie telefonierten viel und später besuchten sie sich regelmäßig. Während sie sich vorstellte, wie er fieberhaft schrieb, schien ihr nichts mehr zu gelingen. Eine veröffentlichte Kurzgeschichtensammlung blieb ohne Erfolg, ja sie befürchtete, verlernt zu haben, wie man Geschichten schrieb.

Sein Buch wurde ein Erfolg und es war schwer für sie, damit umzugehen. Als Freundin konnte sie ihm sagen, wie sehr sie sich für ihn freut, doch als derzeit unglückliche Schriftstellerin ging sie auf Distanz.

Neid in seiner reinsten Form sieht Kathryn Chetkovich in einem Zitat von Dorothy Parker: "Ich würde so gern gut schreiben können, aber ich weiß, dass ich es nicht kann, dass ich es nicht geschafft habe. Bis an mein Lebensende werde ich immer alle bewundern, die es tun." 

Was soll Kathryn Chetkovich daraus nun schließen? Am besten arbeitet sie weiter.


Elfriede Jelinek ist eine der wenigen Frauen, die "die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern [...] so scharfsinnig und radikal benannt" haben. Elfriede Jelinek, die auf E-Mails zumeist zügig und abschlägig reagiert, lässt sich mit einer Antwort an die Herausgeberin des Buches etwas mehr Zeit und bietet an, auf zwei, drei Fragen zu antworten: "Ich kann nicht mehr und will auch, ehrlich gesagt, nicht mehr."

1989 sagte sie in einem Interview, dass intellektuelle Leistung die Frau nicht aufwertet. Der Meinung ist sie heute immer noch. Ja, Frauen werden inzwischen etwas mehr gewürdigt, öfter ausgezeichnet, die Präsenz von Frauen wird geradezu eingefordert. Doch die großen Kulturschöpfungen kommen vom Mann: "Die Frau hat kein Werk." Ihr fehlt in der Diskussion das Wort "Verachtung". Nicht mal Feministinnen mögen es aussprechen. Doch Verachtung ist das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt. Das weibliche Werk wird verachtet. Im Kanon, in dem es um die Verewigung geht, taucht kaum eine Frau auf.