30.4.19

Sam Millar: True Crime

Die Huffington Post schrieb: Millar ist eine Naturgewalt. Und so liest sich das Buch auch.

Als Sam Millar in der Strafanstalt Long Kesh war, hätte er laut einem Vorwort von James Thompson nur drei Wörter sagen brauchen: "Ich gebe auf." Doch er sagte diese Wörter nicht. Hätte er es getan, wäre seine Lebensgeschichte wohl eine andere geworden.

Weiter schreibt Thompson:

Wenn man "True Crime" liest, empfindet man Scham. Man empfindet Scham, weil wir fast alle tief in unserem Herzen wissen, wir hätten schon nach wenigen Stunden aufgegeben, uns hätte die innere Stärke und der Mut gefehlt, über Jahre hinweg an unseren Überzeugungen festzuhalten und dafür auf unerträgliche Weise körperlich und seelisch gepeinigt zu werden. Man empfindet Scham, weil wir zu einer Spezies gehören, die ihresgleichen so barbarisch behandelt. Dennoch entlässt uns "True Crime" mit Hoffnung, denn keine der Grausamkeiten, die man Sam Millar zufügte, konnte seinen Geist brechen. Trotz allem, was er durchgemacht hat, ist und bleibt er eine mächtige Stimme.

Sam kam in Belfast zur Welt und lebte in der geschichtsträchtigen Lancaster Street. In dieser Straße hat es schon immer Aufstände gegeben. Die Mutter (ein Arbeitstier) und der Vater (bei der Handelsmarine) stritten sich oft in den Nächten, bevor er wieder zur See fuhr: wegen ihrer Einsamkeit und seines Freiheitswillens. Sie verfiel dann dem Alkohol und als sich ihr Geisteszustand verschlechterte, beschloss sie, "im Schatten der Toten zu leben, um die Schuld der Lebenden zu begleichen".

Am 30. Januar 1972 nahm Sams Bruder Danny ihn in seinem Auto mit. Nach Derry sollte es gehen, um sich dem Marsch für Bürgerrechte anzuschließen. Sie ahnten nicht, was für ein Albtraum sie erwartete. Britische Milizen schossen auf die unbewaffneten Demonstranten, Tränengas wurde eingesetzt. Dreizehn Menschen starben.

Von der britischen Justiz wurden sie noch verhöhnt. Richter Widgery sprach die Milizionäre frei und gab den Protestierenden die Schuld. Erst vierzig Jahre später musste die britische Regierung eingestehen, dass die Ermordeten ausnahmslos unschuldig waren.

Das Buch ist unterteilt in viele kurze Kapitel. Und jedem Kapitel stehen zwei bis drei Zitate vor, die meist wie die Faust aufs Auge passen. Diese Zitate hat Sam Millar persönlich ausgewählt.

Sam arbeitete nach der Schule als Holzarbeiter, im Schlachthof und als Barkeeper. Bisher hatte Sam sich nicht sonderlich für Politik interessiert. Das änderte sich mit den Erlebnissen in Derry. Da liebäugelte er mit einem militanten Republikanismus. Den letzten Schubs erhielt er, als er im Fernsehen hörte, dass sein alter Schulfreund Jim Kerr an seinem Arbeitsplatz erschossen wurde. Zu dem Verbrechen bekannten sich die sogenannten Red Hand Commandos. Sie betonten, dass alle Katholiken Freiwild wären.

Kurze Zeit später wurde Sam verhaftet, weil er der Irisch-Republikanischen Armee angehören sollte. Er war siebzehn und sah an diesem Tag seinen ersten leibhaftigen Engländer, der "mit einer ganzen Schwadron bis an die Zähne bewaffneter Kameraden in Uniformen der britischen Armee als Verstärkung" über ihn herfiel.

Man verschleppte ihn in das berüchtigte Verhörzentrum Castlereagh, wo ein berüchtigter Bulle, Bill Mooney, die Vernehmer aufpeitschte. "Der liebenswürdige Mooney wurde aufgrund seiner guten Umgangsformen und seines anständigen Charakters später in den Rang eines Detective Chief Superintendent befördert". - Sam verlegte man nach drei Tagen mit jeder Menge Blutergüssen und Schnittwunden am Körper in die Haftanstalt Crumlin Road.

Am 15. Oktober 1973 zerstörte Richter Robert Lowry Sams unschuldige Jugend, indem er ihn als "gefährlichen Terroristen" zu drei Jahren Gefängnis verurteilte. Er hätte ihm gerne acht Jahre gegeben, musste aber sein jugendliches Alter von siebzehn Jahren berücksichtigen. Er kam ins Gefängnis Long Kesh.

So richtig bewusst geworden sind mir die irischen Unruhen erst in dem Film Vertrauter Feind mit Brad Pitt und Harrison Ford. Kein Wunder, als Sam verurteilt wurde, ging ich in die dritte Klasse.

Ich hatte für dieses Buch an einer Leserunde mit dem Autor teilgenommen und ihn gefragt, ob er sich mal Gedanken darüber gemacht hat, was er ohne diese Erlebnisse für ein Mensch geworden wäre. Seine Antwort zitiere ich mal:

"Manchmal sitze ich da und denke, was wohl passiert wäre, wenn die britischen Invasoren meinen Vater und meine Brüder statt mir festgenommen hätten. Die Wahrheit ist, dass sie mich evtl. trotzdem festgenommen hätten, da ich gegen die Briten gekämpft hätte, die uns in unserem eigenen Land wie Hunde behandelt und uns nur wenig Rechte zugestanden haben.

Um ganz ehrlich zu sein, wäre ich nicht illegalerweise ins Gefängnis gesteckt worden, hätte ich keine Bildung erhalten und würde heute kein Schriftsteller sein. Ich muss mich also bei den Briten dafür bedanken, dass sie mich ins Gefängnis gesteckt haben!"

Quelle: Whatchareadin.de

Dieser Nordirland-Konflikt ist nicht nur Geschichte, nein, das Thema ist bis heute nicht abgeschlossen und es scheint auch kein Ende in Sicht zu sein. Hier mal ein Artikel des Tagesspiegels vom 28. Januar 2015.

Wie Sam Millar die Haftzeit überstanden hat und nach Amerika kam? Das lies selbst. Vor allem sein Leben in Amerika ist noch mal eine ganz andere unfassbare Geschichte. Und damit lege ich dieses Buch jedem ans Herz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.