24.2.24

Nicole Seifert: "Einige Herren sagten etwas dazu" - Die Autorinnen der Gruppe 47

 Mir fiel es noch nie so schwer, ein Buch zu beenden. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre oder nicht interessant genug. Ganz im Gegenteil. Aber so geballt zu lesen, wie Frauen herabgewürdigt werden, sie nur nach Äußerlichkeiten beurteilt werden und nicht nach ihren Werken. Was müssen viele der Männer dieser Gruppe für Angsthasen gewesen sein. 

Dies ist nicht das erste Buch dieser Art, das ich gelesen habe. Ich erinnere an "Zensiert, verschwiegen, vergessen" von Ines Geipel und "Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben" von Iris Schürmann-Mock. Nach diesen Leseerfahrungen möchte ich mich fast den Ärzten anschließen: "Männer sind Schweine". Und ich habe immer weniger Lust, das Buch eines Autoren in die Hand zu nehmen.


Inhalt

Nicole Seifert erzählt die Geschichte der Gruppe 47 aus einer neuen Perspektive: der der Frauen. Ihr Ergebnis kommt einer Sensation gleich. "Einige Herren sagten etwas dazu" macht es zwingend, die deutsche Gegenwartsliteratur neu zu denken, die literarische Landschaft neu zu ordnen.

Es waren viel mehr Autorinnen bei den berühmt-berüchtigten Treffen der Gruppe 47 als Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, aber sie sind in Vergessenheit geraten, sie fielen aus der Geschichte heraus – wie sich nun herausstellt, hatte man ihnen oftmals gar nicht erst Zutritt gewährt. Und wurden sie miterzählt, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte, sondern als begehrenswerte Körper oder als tragische Wesen. Nicole Seifert erzählt von den Erfahrungen der Autorinnen bei der Gruppe 47, von ihrem Leben in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der BRD und von ihren Werken.

Ein kluges, augenöffnendes Buch, das sofort große Lektürelust entfacht. Schriftstellerinnen wie Gisela Elsner und Gabriele Wohmann müssen neu gelesen, Schriftstellerinnen wie Ruth Rehmann, Helga M. Novak und Barbara König neu entdeckt werden.  Ein ganz neuer Blick auf die Gruppe 47 und die Nachkriegsliteratur, der uns bis in die Gegenwart führt.


"Die Geschichte einer Frau umzuschreiben, erfordert zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den männlichen Vorgaben, die sie zuvor definiert haben. Um gegen eine Ideologie zu argumentieren, muss man sie anerkennen und artikulieren. Im Zuge dieses Prozesses mag man seiner Opposition unabsichtlich Gehör verschaffen."

Jia Tolentino, "Trick Mirror"


Die Frauen der Gruppe 47

Ruth Rehmann

Ingrid Bachér

Ilse Schneider-Lengyel

Ilse Aichinger

Ingeborg Bachmann

Ingeborg Drewitz

Barbara König

Gabriele Wohmann

Gisela Elsner

Christine Koschel, Christa Reinig

Griseldis L. Fleming

Helga M. Novak

Elisabeth Borchers

Elisabeth Plessen

Barbara Frischmuth

Renate Rasp


Zitate

Es gab so viele Stellen in diesem Buch, die es wert wären, herausgeschrieben zu werden. Aber ihr sollt das Buch ja noch lesen und so belasse ich es bei diesen beiden:


Ilse Schneider-Lengyel ist die erste einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn die Frauen ,nicht' aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, Ähnliches geschah auch bei Ilse Aichinger.


"Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort: Verachtung. Seltsamerweise spricht es nie jemand aus, nicht einmal Feministinnen, vielleicht weil sie es sich nicht eingestehen wollen, doch es ist bezeichnend für das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt, auch wenn das eben nie ausgesprochen wird. Die Verachtung des weiblichen Werks."

Elfriede Jelinek


16.2.24

Marlen Haushofer: Eine Handvoll Leben

Mit einem Vorwort von Angela Lehner
Mit einem Nachwort und herausgegeben von Konstanze Fliedl

So ein Lesen habe ich noch nicht erlebt. Ich wusste nicht, worum es geht, eine Inhaltsangabe oder Klappentext gibt es bei dieser Gesamtausgabe nicht.

Keine Frage, das Buch ist gut zu lesen, entwickelt einen Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Habe mir auch ein paar schöne oder interessante Stellen rausgeschrieben.

Aber: Bis zum Ende hin wusste ich irgendwie nicht, worum es eigentlich ging. Waren Betty und Elisabeth ein und dieselbe Person? Oder war die eine die Ältere, die sich an die Jüngere erinnert?

War ich beim Lesen nicht konzentriert genug? Außer dem allgemeinen Weltgeschehen, das ich mehr oder weniger erfolgreich verdrängen kann, plagen mich derzeit keine Probleme, die mich hätten ablenken können.

Eine Aufklärung habe ich dann im Nachwort erfahren. Mit diesem Wissen wäre es sicher ein anderes Lesen gewesen.


Inhalt

Eine junge Frau täuscht ihren Tod vor, um von ihrer Familie fortzugehen. Nach Jahren gesellschaftlicher und häuslicher Fesseln will sie aus der Rolle der Ehefrau, Mutter und Geliebten ausbrechen: ein eigenes Leben aufbauen, statt ein fremdbestimmtes Doppelleben zu führen.
Jahre später kehrt sie zurück in das Haus, das sie einst verließ – unerkannt vom eigenen Sohn, voller Erinnerungen und doch ohne Reue. 
"Eine Handvoll Leben" ist Marlen Haushofers erster Roman und verdichtet die verschiedenen Lebensentwürfe einer Frau, die sich für den Weg in die Unabhängigkeit entscheidet.  


Aus dem Vorwort

Fast siebzig Jahre nach Erscheinen von Haushofers ,Eine Handvoll Leben' haben sich diese unsichtbaren Wände nur unwesentlich verschoben. Sich öffentlich als Feminist:in zu bekennen, wird vielerorts weiterhin verhöhnt; Stellung zu beziehen, deswegen auch heute noch von vielen vermieden. Zu groß ist die Angst vor dem Ausschluss aus einem nach diskriminierenden Bauplänen errichteten Gesellschaftssystem, das sich immer wieder selbst neu errichtet.


Buchbeginn

Im Mai 1951 starb in einer österreichischen Kleinstadt ein gewisser Anton Pfluger an den Folgen eines Autounfalls. Auf dem Weg von seinem Landhaus in die Stadt fuhr er nämlich, ohne jeden ersichtlichen Grund, gegen einen Alleebaum und zog sich einen Schädelbruch und innere Verletzungen zu. Da er nicht mehr das Bewußtsein erlangte, nahm man an, eine plötzliche Übelkeit hatte ihn befallen. Anton Pfluger hatte wenige Tage zuvor seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und vielleicht dabei des Guten etwas zuviel getan.


Zitate

Die ersten Monate im Internat verbrachte Elisabeth wie ein Mensch, den man brutal ins Wasser geworfen hat und der jetzt um sein Leben schwimmt, wild vor Todesangst und nicht imstande, um sich zu blicken. Nur ganz langsam konnte sie damit anfangen, ein wenig Ordnung in das Chaos von Eindrücken zu bringen. Diese Bemühungen, von wenig Erfolg gekrönt, sollten sie nun jahrelang beschäftigen.

In ihren Träumen nahmen die Ungeheuer überhand und nach wilden Kämpfen und großer Bedrängnis erwachte sie am Morgen matt und leer.

Dann fiel ihr die violette Hyazinthe ein, die jemand ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Noch einmal stand sie vor der feuchtblauen Blüte und roch den erregenden Duft, ganz verloren an diese gewalttätige Schönheit. Nach drei Tagen wurden die glänzenden Blumenblätter matter und auch der Duft wurde schwächer. Am fünften Tag plötzlich, gegen Abend, strömte die Hyazinthe einen so wilden Geruch aus, daß man die Fenster aufreißen mußte. Die Spitzen der blauen Blüten bogen sich in schamlosem Todeskampf zurück und aus ihrer Mitte kam dieser süße und verzweifelte Geruch, der langsam zum Gestank des Todes wurde. Eine Stunde später stand die Blume welk und erschlafft und Elisabeth trug sie aus dem Zimmer.

Ein Gefühl des Triumphes ließ sie rascher atmen, erlosch aber sogleich wieder: die Vorstellung, Lenart könne anfangen, sie zu lieben, war beklemmend und furchteinflößend. Mit einemmal wußte sie, daß sie in Wahrheit nie gewünscht hatte, geliebt zu werden. Sie selbst konnte nur lieben, was für sie schwierig und unerreichbar war und sich ihr immer wieder entzog. Es gab nichts Enttäuschenderes, als eine Aufgabe gelöst, eine Sehnsucht gestillt zu haben und plötzlich ohne Wunsch zu sein.

Das Leben war einfach zu stark, um bewältigt zu werden.

 

13.2.24

Karin Michaëlis: Das gefährliche Alter (1910)

Aus dem Dänischen von Mathilde Mann

Mit einem Nachwort von Manuela Reichart


Inhalt

Als Elsie Lindtner, vierzigjährig, ins "gefährliche Alter" kommt, verläßt sie ihren Mann und zieht sich in die Einsiedelei zurück. Ohne männliche Häme will sie "die Jahre des Übergangs" leben. Als sie endlich begreift, daß sie in Wahrheit vor der Leidenschaft für einen jüngeren Mann flüchtete, ist es zu spät. Er liebt sie nicht mehr. Und ihr Mann hat sich längst mit einer Jungen getröstet.

Das gefährliche Alter, 1910 erstmals erschienen, wird zu einem literarischen Großereignis. Der Roman wird über 1 Million Mal verkauft. Dreimal wurde das Buch über die "zügellosen Gelüste einer Vierzigjährigen" (BZ am Mittag, 1910) verfilmt. Anfang des 20. Jahrhunderts noch ein Skandal, liest sich Karin Michaëlis' Roman über das "gefährliche Alter" heute wie ein Vademekum für Frauen in jedem Alter.


Buchbeginn

Liebe Lili,

es wäre passender gewesen, wenn ich Dir selbst die Neuigkeit überbracht hätte, um so recht in Deinem Entsetzen zu schwelgen, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen.


Zitate

Was nützt all das Reden und Schreiben über die Gleichberechtigung der Geschlechter, solange wir eine von den vier Wochen des Monats Sklaven von etwas sind, das sich nicht überwinden läßt.

Nie vergeß ich den Brief, in dem sie mit wunderlich unsicheren Buchstaben geschrieben hatte: - Wenn Männer ahnten, wie es in uns Frauen aussieht, wenn wir über die Vierzig hinaus sind, sie würden uns fliehen wie die Pest oder uns niederschlagen wie tolle Hunde...
Auf diese Lebensphilosophie hin wurde die Frau eingesperrt. Sie hätte sie für sich behalten und nicht mit Kreide an die Wände ihres Hauses malen sollen. So etwas wird als Beweismaterial für Irrsinn angesehen.

Es sollte ein Klosterorden gegründet werden, im grpßen und munteren Stil der Frauen zwischen Vierzig und Fünfzig. Eine Art Asyl für die Opfer der Übergangsjahre. Denn es kommen ja im Leben einer jeden Frau die Jahre, wo ihr am besten mit einer freiwilligen Einsperrung oder auf alle Fälle mit einer vollständigen Absperrung von dem anderen Geschlecht gedient wäre.

Eine Frau, die es wagt, das Recht des Lebens in den späteren Jahren zu fordern, wird mit Abscheu betrachtet.

Am alten Markt war der Sonntag nicht besser. Dort hatte ich Richard vom frühen Morgen an. Es ist schlimm, sich allein zu langweilen... aber schlimmer, wenn man zu zweien ist. Daß Richard es doch niemals gemerkt hat! Er kam mir vor wie eine mahlende Mühle, wenn er sprach, und mir stäubte das Mehl in die Augen.

5.2.24

Selma Merbaum

Selma Merbaum wurde am 5. Februar 1924 in Czernowitz, Bukowina geboren. Ihre Eltern waren der Schuhhändler Max Merbaum und seine Frau Friederika, geborene Schrager. Sie war die Groß-Cousine von Paul Celan - die Väter der Mütter waren Brüder. Max Merbaum starb, als Selma neun Monate alt war. Ihre Mutter heiratete drei Jahre später Leo Eisinger.

Selma besuchte bis 1940 das ehemals private jüdische Mädchenlyzeum, das Hofmann-Lyzeum und begann schon früh mit dem Lesen der Autoren, die großen Einfluss auf ihr eigenes Werk ausüben sollten: Heinrich Heine, Klabund, Paul Verlaine, Rainer Maria Rilke und Rabindranath Tagore.

Im Oktober 1941 wurden Selma, ihre Mutter und ihr Stiefvater Leo Eisinger gezwungen, im Ghetto der Stadt zu leben. Am 28. Juni wurde auch Selma mit Familie und Verwandten in das Übergangslager Cariera de Piatra, in Transnistrien, verschafft. Von dort wurde sie in das Arbeitslager Michailowk östlich des Bugs deportiert - von Deutschen besetztes Gebiet der Ukrainischen Sowjetrepublik. Dort wurden die Häftlinge gezwungen, Steine für den Straßenbau für die Durchgangsstraße IV zu hacken.

Selma war erst 18 Jahre jung, als sie als verfolgte Jüdin entkräftet an Fleckfieber starb. Geblieben sind von ihr ein paar biografische Daten und 58 Gedichte, die sie hauptsächlich für ihren Freund Leiser Fichmann aus der zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hazair geschrieben hat. Ihr Werk gehört mittlerweile zur Weltliteratur.

Leiser Fichman erhielt das Gedichte-Album von Else, Selmas Freundin. Er nahm es mit ins Arbeitslager, entschloss sich, nach Palästina zu flüchten und gab es Else zurück. Das Schiff, auf dem sich Fichman befand, wurde torpediert und er starb. So fanden sie ihren Weg mit Else durch Europa nach Israel.
Hier veröffentlichte sie Hersch Segal, Selmas Lehrer von der Jiddischen Schule, 1976. 400 Büchlein ließ er auf eigene Kosten drucken.
Es handelt sich dabei durchgängig um Liebes- und Naturgedichte, die von einer melancholischen Grundstimmung geprägt sind.


Als der Komponist David Klein auf die Gedichte von Selma stieß, machte er sich auf die Suche nach Sängerinnen und Sängern. Gefunden hat er:

Sarah Connor (erstmals auf Deutsch)
Xavier Naidoo
Yvonne Catterfeld
Reinhard Mey
Hartmut Engler (Pur)
Thomas D (Die Fantastischen Vier)
Joy Denalane
Jasmin Tabatabai
Volkan Baydar (Orange Blue)
Inga Humpe (2raumwohnung)
Stefanie Kloß (Silbermond)
Ute Lemper,
die Selma nach über 60 Jahren eine Stimme gaben.

Und wer vielleicht mit Gedichten nicht so viel anfangen kann, dem gehen diese Lieder und Stimmen bestimmt unter die Haut.

2.2.24

Christiane Ritter: Eine Frau erlebt die Polarnacht

Erst als an einer Stelle im Buch die Frage auftauchte, ob in Europa schon Krieg ist, stutzte ich und schaute mal nach: Das ganze Unterfangen fand schon 1934/35 statt. Die Autorin Christiane Ritter lebte von 1897 bis 2000.

Dabei war Christiane Ritter nicht etwa abenteuerlustig, als sie die Reise nach Spitzbergen antrat, nein, ihr Mann Hermann Ritter (deutscher nautischer Offizier, Pelztierjäger und Offizier der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg, zuletzt als Leutnant zur See) meinte, sie müsse unbedingt ein Jahr auf Spitzbergen verbringen.

Den ersten Schock bekam sie schon mal, als er meinte, sie dürfte nur mitnehmen, was sie selbst tragen könne - also einen Rucksack voll an Gepäck.

Christiane Ritter war nicht die erste Frau, die es in die Arktis zog. Als erste weiße Frau, die in der Arktis überwintert hat, galt Josephine Peary (1863-1955), US-amerikanische Polarforscherin und Schriftstellerin.

"1893 erschien ihr Buch My Arctic Journal – a Year among Ice-Fields and Eskimos. Sie war die Ehefrau von Robert E. Peary, den sie bei seinen Versuchen, den Nordpol zu erreichen, aktiv unterstützte. 1955 ehrte die National Geographic Society sie mit der Medal of Achievement für ihre Verdienste um die Arktis. Isabel Coixet drehte 2014 über Josephine Peary den Spielfilm Nobody Wants the Night mit Juliette Binoche in der Hauptrolle." - Wikipedia

Ein Abenteuer wurde es dann aber doch. Und zum Schluss wollte Christiane Ritter gar nicht mehr weg von dort. Das Buch zeigt, wie weit wir Menschen uns schon damals von der Natur entfernt haben - auch von unserem eigentlichen Menschsein.


Inhalt

Im eisigen Spitzbergen, viele hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt und ohne die Hilfsmittel moderner Arktisexpeditionen, hat die Malerin Christiane Ritter ein Jahr lang allein mit ihrem Mann und einem Pelzjäger in einer Hütte gelebt. Was sie vom Schrecken der Schneestürme, von der Jagd auf Bären, Polarfüchse und Schneehühner und vor allem von der Grausamkeit monatelanger Finsternis erzählt, aber auch von der unvorstellbar strahlenden Schönheit des arktischen Sommers, ist der Schlüssel zu einer unbekannten Zauberwelt.


Buchbeginn

Die lockende Arktis

In einer Hütte in der Arktis zu leben, war von jeher meines Mannes Wunschtraum gewesen. Wenn in unserem europäischen Heim irgend etwas nicht stimmte, Kurzschluß, Rohrbruch, oder gar der Mietzins gesteigert wurde, meinte er immer wieder, so was könnte in einer Hütte in der Arktis nicht vorkommen.

Anschließend an eine wissenschaftliche Expedition blieb mein Mann in Spitzbergen, betrieb mit seinem Kutter Eismeerfang und, wenn alles vereist war, im Winter auf dem Festlande Pelztierjagd. Briefe und Telegramme kamen aus dem hohen Norden: "Laß alles liegen und stehen und folge mir in die Arktis."


Zitate

Wir fahren wieder in dichtem Nebel. Gefleckte graue Möwen fliegen ganz niedrig mit dem Schiff. Es sind ganz andere Möwen als die, die ich bis jetzt gesehen habe. Sie fliegen mit knappen, derben Flügelschlägen. Ihre stumpfen, verbissenen Gesichter sehen nach Kampf und Zähigkeit aus. In ihrem Anblick ahne ich zum erstenmal die unerbittliche Natur der Arktis.


Wir haben Vollmond. Was das bedeutet auf der vereisten Glatze der Erde, davon kann sich kein Mitteleuropäer einen Begriff machen. Uns ist es, als zerflössen wir im Mondlicht und als zehrte es uns auf. Es nützt nichts, wenn wir nach einer Mondscheintour zurückkehren in die Hütte unterm Schnee. Es ist, als verfolgte uns das Licht überallhin. Das ganze Bewußtsein ist grelle Helle, das ganze Bewußtsein verlangt zurück zum Mond.


Der Mediziner bewundert mein gesundes Aussehen und meine "unvergleichliche Seelenruhe".
Kunststück, wenn, wie hier, das Tagewerk nur aufs Lebensnotwendigste eingestellt ist und Tag und Nacht Zeit bleibt, der Natur zu leben. In unserer weiteren Unterhaltung bedauern wir alle Menschen der europäischen Städte, besonders die Hausfrauen, die, ohnedies abgehetzt vom beständigen Kampf mit Ruß, Staub, Motten und Mäusen, sich noch gegenseitig verpflichtet fühlen zu äußerem Schein. Wir sprechen weiter von Europas Kulturgenüssen, die uns dort so wertvoll sind, zum Beispiel die Musik, ohne die wir doch kaum zu leben vermögen, die die Seele erhebt und das Gemüt leicht macht. Merkwürdig genug, aber der Hunger nach Musik fehlt hier ganz. Unser Gemüt ist leicht, die Seele ist in einem dauernden Zustand der Erhebung. Die Natur scheint alles zu enthalten, was der Mensch für sein Gleichgewicht braucht.


Manchmal steigen wir auf die Berge. Nicht um Ausschau zu halten über das Eis. Nicht auf Schiffe warten wir. Nein, wir sind so wie alle Spitzbergener, die sich fürchten vor dem ersten Frühjahrsschiff. Nur nichts soll kommen, unseren Frieden zu stören!