2.11.19

Margaret Forster: Ich warte darauf, dass etwas geschieht

Vorab schon mal eines: Dieser Buchtitel ist für die Geschichte der Hauptfigur absolut unglücklich gewählt.

Was für ein Lesevergnügen. Über Bücher von Margaret Forster bin ich schon häufiger gestolpert - Frauen scheinen ein großes Thema bei ihr zu sein. Dies nun ist mein erstes Buch, das ich von ihr gelesen habe.

Aus dem Vorwort, geschrieben von der Autorin, erfahren wir, dass es um das Tagebuch einer Frau, Millicent King, geht. Sie hat es mit dreizehn Jahren begonnen. Heute ist sie über neunzig. Von dem Tagebuch hat Margaret Forster von Joanna King erfahren, deren Mann der Neffe der alten Frau ist. Nach einem Telefonat mit Millicent King erhält Forster ein paar Auszüge und ist hellauf begeistert. Sie besucht die alte Dame, die sich fragt, ob man mit ihrem gewöhnlichen Geschreibsel etwas anfangen kann.

In den folgenden Wochen liest die Autorin alle Bücher in einem Zug, ohne sich Notizen zu machen. Nach dem Lesen ist sie sich sicher, dass sie sie herausgeben möchte:

"Eines muß ich sagen: An dieser Frau war nichts gewöhnlich. Ich frage mich sogar inzwischen, ob es überhaupt so etwas wie ein ganz gewöhnliches Leben gibt."

Millicent beginnt ihr Tagebuch am 26. November 1914. Ihr Vater meinte zwar, sie müsse am 1. Januar beginnen, aber das sieht sie gar nicht ein. Auch meint ihr Vater, dass er nicht glaubt, dass sie es durchhalten würde, ein Tagebuch zu führen. Das traut er eher ihrer Schwester Matilda zu. Millicent weiß, dass Matilda ein Tagebuch führt - sie hat es nämlich gelesen. Was für sie gar nicht gut war, denn gut kommt sie bei der Schwester nicht weg. Weitere Geschwister von Millicent sind George, die Zwillinge Albert und Alfred und das Baby Michael.
Ein Lieblingssatz von Millicent scheint zu sein: Das ist mir egal. Sie ist sehr auf sich bezogen, aber auch ehrgeizig. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mal eine Frau wird die weiß, was sie will und es sich auch nimmt. Ihr Selbstmitleid ist sehr ausgeprägt: Seitenlang klagt sie in ihrem Tagebuch darüber, wie sehr sie sich wegen der Schwangerschaft ihrer Mutter ausgenutzt fühlt. Glücklicherweise brauche ich das nicht alles lesen, da die Autorin zwischenzeitlich eine kleine Zusammenfassung präsentiert.

Gibt es auch einen sympahischen Zug an Millicent? Ja - sie liest sehr gerne. Schon auf den ersten Seiten sind acht Buchtitel aufgeführt. Ich notiere sie mir und werde sie als Liste am Ende anfügen.

Die Familie lebt in London, der Vater scheint etwas mit der Herstellung oder dem Verkauf von Möbeln zu tun zu haben. Die Familie scheint recht wohlhabend zu sein. Millicent hängt an ihrem Vater und sie hat Angst, dass er noch eingezogen wird. Doch erst mal zieht Bruder George in den Krieg. Matilda tritt der Voluntary Aid Detachment bei, was der Vater sehr egoistisch findet. Schließlich wird sie zu Hause gebraucht.

Gewöhnlich war an dieser Millicent oder ihrem Leben nichts. Sie will Lehrerin werden, was der Vater ihr nur zähneknirschend finanziert. Bruder George kommt kriegsgeschädigt wieder nach Hause. Mit Männern hat sie nichts am Hut. Sie möchte arbeiten und Geld verdienen. Zu Beginn des Jahres 1919 stirbt der Vater und Ernährer der Familie. Die Mutter war hilflos, glücklicherweise kam Tante J. und nahm das Heft in die Hand, sonst hätte es nicht mal eine Beerdigung gegeben.
Auf dem Sparkonto des Vaters waren nur ein paar hundert Pfund und 80 Pfund auf dem Girokonto. Das Haus der Familie ist mit Hypotheken belastet. Nach Wochen des Suchens findet Millicent endich einen Job als Verkäuferin.

20. Mai - der Krieg ist aus.

Die Mutter heiratet wieder. Das gibt Millicent die Möglichkeit, sich weiter als Lehrerin ausbilden zu lassen. Tom, mit dem sie schon eine Weile befreundet ist, schickt ihr Blumen zum Valentinstag. Doch Millicent denkt nicht an Romanzen, sie stürzt sich ins Studium und schneidet als Beste beim Examen ab. Sie wird an eine Grundschule in Surrey berufen, die lose Beziehung zu Tom scheint einzuschlafen.

Anfang September 1923 verbringt Millicent eine Woche Urlaub in Paris und wurde aus der Bahn geworfen. Wieder zurück, ist sie mit allem unzufrieden: mit der Schule, ihrer Wohnung, ihrer Stadt. Ohne anregende Kontakte kann sie sich über ihre Unabhängigkeit nicht freuen.

Der Stiefvater stirbt überraschend an einem Herzinfarkt. Millicents Befürchtung, nach Hause zurückkehren zu müssen, bewahrheitet sich nicht. Die Familie ist finanziell abgesichert.

Matthew Taylor, den sie bei Schwester Tilda kennenlernt, liegt ihr in den Ohren, in den Journalismus zu wechseln. So könnte sie für seine Zeitung arbeiten, was sie vehement ablehnt. Schließlich hat sie sich zur Lehrerin ausbilden lassen, was teuer genug war. Doch der Lehrerberuf gab ihr keine Freude mehr, obwohl sie gut darin war. So kündigte sie dann doch. Aber was für eine Enttäuschung, als sie bei Matthew beginnt. Ein runtergekommener, stinkender Raum über einem von Italienern geführten Café. Ein zweiter Stuhl muss erst herbeigeschafft werden. Millicentet arbeitet nun als Redaktionsassistentin, liest Manuskripte und kreuzt grammatikalische Fehler an und kürzt die Texte.
Einen ersten Streit gibt es zwischen den beiden, als Millicent Matthew nach dem Sinn der Zeitung fragt. Sie könne keine Arbeit machen, wenn sie nicht den Sinn darin erkennen kann. Die Auseinandersetzung und das Geständnis Matthews, dass er wünsche, Millicent würde ihn heiraten, ließ alles zerbrechen.

Durch eine Zeitungsanzeige findet Millicent einen Job als Lehrerin im Ausland. Sie soll die Tochter Francesca von Mr. Russo unterrichten und lebt nun in einer Villa in der Nähe von Rom mit einem herrlichen Blick über das weite Land.

Hier ende ich einfach mal. In diesem Stil begleiten wir Millicent durch ihr Leben, wie es hätte sein können, denn die Autorin hat für dieses Buch einen Trick angewandt, den ihr selbst entdecken solltet und der erst am Ende des Buches in einem Nachwort verraten wird.
Millicent lernt Männer kennen, die sie gerne heiraten möchten - obwohl sie selbst nichts von der Ehe hält. Sie möchte etwas Sinnvolles tun, wird Sozialarbeiterin (dieser Beruf ist gerade erst im Entstehen und nicht jede Gemeinde möchte dafür Geld ausgeben) und Sanitätsfahrerin im Zweiten Weltkrieg, in dem sie so einige Familienmitglieder verliert. Sie bekommt keine eigenen Kinder, muss aber trotzdem für Jahre die Mutterrolle übernehmen. Und wird auch in Friedenszeiten und im gesetzten Alter noch einmal politisch tätig.

Nein, ein gewöhnliches Leben war dies wirklich nicht. Einzig der Buchtitel ist unglücklich gewählt. Denn Millicent war keine Frau, die darauf gewartet hat, dass etwas geschieht. Im Gegenteil: Sie hat ihr Leben immer in die eigene Hand genommen.

Nach diesem Buch bin ich noch neugieriger auf mehr von Margaret Forster. Ich habe mir schon einige Bücher von ihr angeschafft und denke, dass die nicht lange warten brauchen, bis ich sie lese.

Apropos lesen. Millicent hat ja auch gerne gelesen. Hier mal die Bücher und Autoren, die ich in diesem Buch entdeckt habe:

H. G. Wells: Kipps
Charles Dickens: Eine Geschichte aus zwei Städten
Jane Austen: Stolz und Vorurteil
Harriet Beecher Stowe: Onkel Toms Hütte
Ethel M. Dell: The Way of an Eagle
Henry Fielding: Tom Jones
Charles Dickens: Oliver -twist
Richard D. Blackmore: Das Tal der Verfemten
Der geheime Garten
Heim zur Erde
Virginia Woolf: Mrs. Dalloway
Katherne Mansfield
Der Wind weht
Shakespeare: King Lear
A. J. Cronin: Zitadelle
Elizabeth Bowen
So grün war mein Tal
Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead
C. P. Snow: Die Lehrer
Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung
John Hersey: Hiroshima
Vera Brittain: Testament einer Jugend
Iris Mudoch: Unter dem Netz
Doris Lessing: Martha Quest
J. R. R. Tolkien: Herr der Ringe

4 Kommentare:

  1. Hallo liebe Anne!
    Sagenhaft was für tolle Literaturhinweise in diesem Buch stecken. Ich habe die Autorin vor Jahren gelesen . Das Buch hiess * Ich glaube, ich fahre in die Highlands* und hatte mich damals sehr beeindruckt. Ers handelt von einer alten dementen Frau, die ihr Leben lang für die Familie gesorgt hat und nun auf Hilfe angewiesen ist. Der Roman wird aus zwei Perspektiven beschrieben. Aus der Sicht von Enkelin und Schwiegertochter. Insgesamt stehen auch hier Frauen im Geschehen. Interessant an diesen Roman: hier halten sich die Männer der Familie sehr zurück und meiden fast das Hinschauen beim langsamen Verfalls der alten Frau.....
    GLG Angela

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    1. Das Buch habe ich auch gelesen, liebe Angela. Fand ich auch beeindruckend. Bei dem Buch von Will Schwalbe über seine Mutter gibt es auch eine Liste, ich weiß nicht, ob Du das gesehen hast: https://biografischerblog.blogspot.com/2019/06/will-schwalbe-diesem-tage-lasen-wir.html
      Liebe Grüße, Anne

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  2. Liebe Anne,
    was für eine wundervolle Rezension du geschrieben hast. Suuuuper. Ich finde es ganz klasse von Dir, dieses Genre, über außergewöhnliche Frauen zu schreiben, zu füllen. Frauen, die nicht die Ehe an erster Stelle setzen, sich sondern engagieren, geistige Werte in ihr Leben umzusetzen, was für die damalige Zeit nicht ganz einfach war. Ich wünsche Dir ganz viel Spaß, diesen Blog zu betreiben, der sehr wichtig ist.

    Viel Erfolg weiterhin.
    Mira

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    1. Danke Dir, liebe Mira. Ja, diese Geschichte habe ich regelrecht verschlungen, weil die Millicent wirklich ein interessantes Leben hatte.

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