22.11.20

Raffaella Romagnolo: Dieses ganze Leben

Lesen mit Mira 

Gleich auf den ersten Seiten erfahren wir von Paolas Problem: Sie hält sich für einfach zu dick und überlegt, wie es dazu kam. Bevor ihr Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt, geboren wurde, war sie auf Fotos ein kleines süßes Mädchen. Die nächsten Fotos von ihr gab es erst wieder zum Schulbeginn - kaum noch wiederzuerkennen.

"Kam das ganz plötzlich? Bin ich als süße Göre eingeschlafen und als Kotzbrocken aufgewacht...?" - S. 18/19

Ich bin auf Mirellas Rezension gespannt. Sie hat schon mehrere Bücher gelesen, die in Italien spielen, und sie hat sich bisher immer geärgert, was für ein Bild uns über dieses Land und seine Menschen gegeben wird.

Von daher war ich gespannt, wie es in diesem Buch ist. Zumindest kommt die Protagonistin ja schon mal aus einem reichen Elternhaus. Ihr Mitschüler Antonio kommt zwar aus einer Gegend mit Sozialwohnungen, doch er besucht das Gymnasium und hat einen schlauen Bruder, der Schach spielt.

Paola versucht sich anzupassen. Sie verschickt Textnachrichten, ist auf Facebook und versucht sich zu kleiden wie die anderen.

"Das alles fällt mir nicht leicht, seit erwiesen ist, dass die anderen herzlose Ungeheuer sind. Es war auch schon vorher schwer, im Grunde habe ich es schon immer gewusst. Aber was ist die Alternative? Allein sein? Mit niemandem reden?" - S. 48

Antonio bringt ihre Gedanken durcheinander. Mag er sie? Trifft er sie und Richi unterwegs wirklich nur aus Zufall? Doch wie sollte er Interesse an ihr haben - an einer Dicken mit Pferdegesicht?

Eines Tages kommen Männer und räumen die Wohnung aus - nehmen Papiere und Computer einfach mit. Paolas Mutter hat Geheimnisse. Ihr einziges Geheimnis ist, dass sie mit Richi fast jeden Tag bei Antonio und dessen Bruder Filippo ist. Die beiden Jungs spielen Schach. Antonios Mutter will Paolas Mutter kennenlernen, doch Paola will das verhindern, da sie überzeugt ist, dass sie dann nicht mehr dorthin darf. Doch Richi ist anderer Meinung. Als die Mutter dazukommt, reißt bei Paola erstmals der Geduldsfaden: 

"Aber klar doch ... Paola muss ein großes Mädchen sein, sie muss ,verantwortlich' sein, weiß Paola denn nicht, was für Probleme Richi hat, wie sehr Richi sich anstrengen muss? Paola sollte sich besser ganz still in eine Ecke verziehen und aufhören, uns auf den Sack zu gehen."
"Sei nicht so vulgär."
"Hast du ein Problem?"
"Was ist nur mit dir los?"
"Das würde ich dir sofort sagen. Wenn es dich bloß interessieren täte. Wenn du mich anschaust, siehst du doch nur, welche Kleidergröße ich trage. Du misst meine Taille, meinen Schenkelumfang, und das war's. Für manche Sachen hast du ein scharfes Auge, das halbe Kilo mehr errätst du aus hundert Meter Entfernung."
- S. 105

Diese Auseinandersetzung mit der Mutter ist ein erster Höhepunkt in dieser Geschichte. Und ich dachte, sie nimmt hier Fahrt auf. Da wurde ich enttäuscht. Insgesamt hat das Buch eine total negative Grundstimmung. Antonio ist die einzig positive Figur in der Geschichte. 

Bis kurz vor Schluss wusste ich auch nicht, wohin die Autorin wollte. Es werden einige Themen abgedeckt: Schönheitswahn, Menschen mit Behinderung, Jugendliebe, Familie, Rassismus (wenn Richi als behindertes Kind keine Chance hat, eine der beiden Privatschulen in der Gegend zu besuchen). Sollte es eine Familiengeschichte sein? Dazu blieben die Familienmitglieder zu blass. Anfangs könnte man meinen, es geht mehr um Paola und ihre Gewichtsprobleme, aber auch das verlor sich wieder. Noch dazu sprang sie mit ihren Gedanken hin und her. Ich meine, ich habe selbst beim Lesen schon manchmal Probleme, meine Gedanken in der Geschichte zu lassen. Wenn aber auch die Hauptfigur so sprunghaft ist, fällt mir das Lesen noch schwerer.

Ich hatte Mira gefragt, ob sie auch das Gefühl hat, als rede Paola wie eine Erwachsene. An einigen Stellen dachte ich, so spricht doch kein Kind. Durch unser Gespräch wurde mir dann aber bewusst: Sie musste früh erwachsen werden. Sie ist ja diejenige, die jeden Tag mit Richi zusammen war, die sich kümmerte, mit ihm unterwegs war. 

Ganz zum Schluss erfährt man dann, um was es der Autorin wirklich geht. Aber das war mir einfach zu schnell abgehakt. Sie hatte einige gute Themen angesprochen, die auch absolut aktuell sind, es aber versäumt, sie besser herauszuarbeiten.

Ich bedanke mich beim Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hier könnt ihr die Buchbesprechung von Mirella lesen.

2 Kommentare:

  1. Liebe Anne,

    da bin ich jetzt aber auch mal gespannt auf Mirellas Rezension, mache ich doch in persönlichen Gesprächen immer wieder die Erfahrung, dass jede und jeder ein wenig anders liest.

    Herzliche Grüße
    Andrea

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    Antworten
    1. Moin liebe Andrea,
      so unterschiedlich liegen wir da gar nicht. Viel Spaß bei der Lektüre von Mirellas Buchbesprechung.

      Liebe Grüße,
      Anne-Marit

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